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Memoiren 1902 - 1945

Memoiren 1902 - 1945

Titel: Memoiren 1902 - 1945
Autoren: Leni Riefenstahl
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ein Klavier und eine Stimme kommandie ren, eins-zwei-drei, eins-zwei-drei - ein Hüpfen und Stampfen. Mich überfiel ein unbändiges Verlangen mitzumachen. Gegen jede Vernunft, denn ich wußte, mein Vater würde mir dies nie erlauben, ließ ich mir die Aufnahmebedingungen geben, den Preis für die Stunden sagen und meldete mich sofort für den Anfängerkurs an: Zwei Stunden in der Woche. Außer einer mäßigen Gebühr, die ich schon aufbringen konnte, benötigte ich lediglich einen Tanzkittel. Dies war nicht das Problem, wohl aber die Frage, wie ich diese Stunden vor meinem Vater verheimlichen konnte. Glücklicherweise war mein Vater zu dieser Zeit noch im Büro beschäftigt. Trotzdem erwies sich die Sache als nicht ganz ungefährlich. Meine arme Mutter mußte einmal wieder Mitwisserin und Mithelferin spielen. Meinem leidenschaftlichen Drängen konnte sie nicht widerstehen. Da ich die Tanzstunden ja nur zu meiner Freude mitmachen wollte und nicht entfernt daran dachte, sie beruflich zu nützen, hatten wir auch kein allzu schlechtes Gewissen.
      Nun mußte ich aber jeden Morgen den Postboten abpassen, damit meinem Vater nicht etwa die ersehnte Benachrichtigung in die Hände fiele, und tatsächlich konnte ich schon bald den Brief abfangen. Die Ausgewählten wurden wieder in die Grimm-Reiter Schule bestellt, aber diesmal traf ich bedeutend weniger Mädchen an. Jede von uns mußte der Filmjury einen Walzer vortanzen. Ich wurde mit einigen anderen dazu ausgewählt. So sehr ich mich auch darüber freute, so wußte ich doch, daß ich diese Chance nicht wahrnehmen konnte. Das habe ich dem enttäuschten Regisseur auch gleich gesagt.
      Entschädigt wurde ich durch die heimlichen Tanzstunden, die mich immer mehr begeisterten. Dabei stellte ich mich anfangs keineswegs sehr geschickt an. Ich war zu verkrampft, aber technisch fiel mir infolge meines ständigen Sporttrainings alles sehr leicht. Nach der fünften oder sechsten Stunde lösten sich schon die Verkrampfungen, und meine Glieder begannen der Musik zu folgen.
      Von nun an machte ich große Fortschritte und wurde in kurzer Zeit eine Meisterschülerin. Obwohl ich nun schon seit drei Monaten an dem Unterricht teilnahm, blieb es meinem Vater verborgen. Dadurch ermutigt, beschloß ich, auch den Ballettkurs mitzumachen. So ging ich nun viermal in der Woche zum Unterricht. Bald konnte ich bereits auf den Spitzen tanzen und ließ mir von meinen Freundinnen die Glieder verrenken, so daß ich sie wie eine Gummipuppe bewegen konnte. Kein Schmerz war mir zu groß, ich scheute keine Anstrengung und trainierte außerhalb der Schule täglich viele Stunden. Jede Stange, jedes Geländer wurde dazu mißbraucht, in der Straße bewegte ich mich in Sprüngen fort, tänzelte und bemerkte kaum, wie
mir die Leute kopfschüttelnd nachschauten. Schon immer hatte ich die Angewohnheit, mich nur mit dem zu befassen, was mich interessierte. Alles andere nahm ich kaum wahr, ich spann mich ein in meine eigene Welt. Was andere Leute über mich sagten oder dachten, war mir gleichgültig.
      Meine Freundinnen hatten schon einen Freund, flirteten, und ihre aufregenden Erlebnisse drehten sich fast immer nur um Männer. Ich zeigte daran noch nicht das geringste Interesse. Zwar war ich schon heftig verliebt gewesen, aber das waren nur Schwärmereien, die mir viel Kummer bereiteten - vor allem deshalb, weil ich dem von mir so leidenschaftlich Angebeteten nie nahe kam. So konnte ich meine Gefühle ausschließlich in meinen Tanz hineinströmen lassen.
      Daß der Weltkrieg inzwischen beendet war, daß wir ihn verloren hatten, daß eine Revolution stattfand, es keinen Kaiser und keinen König mehr gab, dies alles erlebte ich nur wie im Nebel. Mein Bewußtsein kreiste um eine kleine winzige Welt.
      In dieser Zeit, im Winter 1918 oder im Frühjahr 1919, geriet ich einmal in Straßenkämpfe. Der Hochbahnzug, in dem meine Mutter und ich uns befanden, wurde in der Nähe des Bahnhofs Gleisdreieck beschossen. Wir mußten uns alle auf den Boden legen, das Licht ging aus, und als wir dann später nach Hause liefen, pfiffen Schüsse an uns vorbei. Wir sprangen von Hausflur zu Hausflur und suchten Deckung. Ich hatte keine Ahnung, warum das geschah und was das bedeutete. Das Wort Politik kam in meinem Wortschatz noch nicht vor, und auf alles, was mit Krieg zu tun hatte, reagierte ich mit einer Gänsehaut. Zu meiner Schande muß ich gestehen, daß mir als junger Mensch nationale Gefühle fremd waren. Krieg war
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