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Melina und das Geheimnis aus Stein

Melina und das Geheimnis aus Stein

Titel: Melina und das Geheimnis aus Stein
Autoren: Marlene Röder
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nicht aufspüren kann? Aber dann denke ich an Anubis’ alles durchdringenden Blick. Schaudernd wird mir klar, dass solch ein Wesen sich von nichts aufhalten lassen wird.
    Da sehe ich zwischen den Gräbern eine Gestalt.
    Im Näherkommen erkenne ich Will. Barfuß geht er durch den schmutzigen Schnee. Offensichtlich hat er seine Flipflops und den Mantel auf der Flucht verloren. Auch das T-Shirt ist zerrissen, sodass seine Flügel entblößt sind. Der linke hängt schlaff herunter, die Flügelspitze schleift auf dem Boden. Der andere Flügel peitscht wild durch die Luft, wie bei einem Vogel, der versucht, einem Raubtier zu entkommen.
    An Wills Seite läuft Anubis, auf allen vieren wie ein Tier. Seine Hundekiefer haben sich wie ein Schraubstock um Wills Unterarm geschlossen. Die beiden sind mir jetzt so nahe, dass ich den Geruch von Schweiß und Angst riechen kann, der von Will ausgeht. Ein Ruck von Anubis – und Will fällt vor mir auf die Knie.
    Ich blicke auf seinen schmalen Nacken, die widerspenstigen Locken. Will hebt den Kopf, schaut mir in die Augen und fragt: „Warum machst du das, Melina?“
    „So habe ich das nicht gewollt!“, flüstere ich, vor Entsetzen wie gelähmt. „Ich wollte doch nur mit dir reden. Das ist alles falsch, völlig verdreht und falsch!“
    Was hast du erwartet? Obwohl Pippa nicht hier ist, kann ich ihre Stimme in meinem Kopf flüstern hören. Sie hat von Anfang an Recht gehabt: Das war ein bescheuerter, gemeiner und gefährlicher Plan! So geht man nicht mit Freunden um, so geht man nicht mit anderen Menschen um.
    „Lass ihn sofort los!“, schreie ich Anubis an. „Lass ihn los, du tust ihm weh!“ Meine Stimme klingt schrill und zittrig. Nicht wie die Stimme von einer, die Anubis Befehle gibt. Eher wie die einer Witzfigur.
    Trotzdem öffnet Anubis sein Maul und gibt Wills Arm frei. Ich kann die Abdrücke seiner Zähne auf Wills Haut erkennen. Dann erhebt Anubis sich aus seiner geduckten Haltung, richtet sich zu seiner vollen, übermenschlichen Größe auf. Wie ein schwarzer Berg ragt er vor uns empor.
    Ich unterdrücke den Drang wegzurennen. Mama hat mir beigebracht, dass man gegenüber gefährlichen Hunden keine Angst zeigen darf. Sonst beißen sie. „Du hast deinen Teil der Abmachung erfüllt“, sage ich, so ruhig ich kann. „Also gut, dir bleibt die restliche Nacht in Freiheit. Aber morgen … morgen Früh kommst du zurück zum Museum und ich lasse dich wieder einschlafen.“
    Anubis lacht. Die Lefzen weit zurückgezogen, schüttelt er sich vor Lachen. Das Schaurigste ist, dass sein Lachen völlig lautlos ist.
    Mit einem Schlag begreife ich, dass er nie vorhatte, sich an die Abmachung zu halten. Niemals wird er sich freiwillig wieder in den Schlaf fesseln lassen. Er richtet seine roten Augen auf mich und ich erkenne Hass, der darin flammt: Hass darauf, dass ich Macht über ihn habe.
    Dunkelheit hat sich über den Friedhof gesenkt wie ein Mantel, den Anubis mit sich trägt. Auf seiner breiten Brust sehe ich feine Linien aufleuchten. Sie formen Bilder, Bilder aus meinem Leben.
    Ich sehe mich und meine Eltern auf der Beerdigung. Jonas’ Grab tut sich vor uns auf, ein Loch, das alles verschlingt. Ich sehe meinen Vater, der mit seiner Aktentasche das Haus verlässt, uns alleine lässt. Meine Mutter schlafend auf dem Sofa. Mich, wie ich vergeblich versuche, sie aus der Traurigkeit zu wecken.
    Anubis überschüttet mich mit einer Flut von Bildern: Bilder von Momenten, in denen ich mich klein und unglücklich und einsam gefühlt habe.
    Ich sehe mich, wie ich als Letzte in Sport gewählt werde.
    Ich sehe Will und Jessie zusammen, während ich alleine hinter dem Fenster stehe.
    Genau wie heute Mittag im Museum spüre ich, wie meine Kraft schwindet. Eiswüsten breiten sich in mir aus. Lappland kommt in mein Herz. Mein Körper wird vor Kälte taub und schwer. Langsam, unerbittlich verwandele ich mich in Stein.
    „Hey, du blöder Zombie!“, ruft plötzlich eine helle Stimme.
    Mühsam drehe ich meinen schweren Kopf. Da ist noch jemand auf dem Friedhof. Die Gestalt kommt rasch näher, dribbelt zwischen den Grabsteinen hindurch … Ist das Weiße da tatsächlich ein Fußball?
    Zum ersten Mal wirkt Anubis überrascht. Mit einem lautlosen Knurren wendet er sich der Angreiferin zu, die mit fliegenden Locken auf ihn zustürmt.
    „Lass meine Freunde in Ruhe, du Fiesling!“, schreit Jessie und schießt. Der helle Fußball zieht einen weiten, kraftvollen Bogen durch die Dunkelheit.
    Jessies Ball
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