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Meine kaukasische Schwiegermutter

Meine kaukasische Schwiegermutter

Titel: Meine kaukasische Schwiegermutter
Autoren: Wladimir Kaminer
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unaufhörlich in einer Spirale nach unten, dabei sind es sowieso Kopekenpreise. Melonen sind billiger als Kartoffeln, dazu verlieren sie auch noch jeden Tag an Wert.
    Früher, so erzählte mir Onkel Joe, gab es Melonen sogar ganz umsonst. Die Kolchose »Morgenröte des Kommunismus« stellte Jugendliche in der Erntesaison ein, auf dass sie die Wassermelonen aßen und die Kerne sammelten – für die nächste Aussaat. Jeden Tag bekam die Jugendbrigade eine Ladung Wassermelonen. Egal wie groß oder gering ihr Appetit war, alle Melonen mussten bis zum Abend aufgegessen, die Kerne ordentlich gesammelt und getrocknet werden. In aller Frühe ging es zur Sache. Die Ältesten schnitten die Wassermelonen auf und aßen das Beste heraus, die Jüngsten halfen ihnen beim Resteaufessen und mussten nachher die Kerne sammeln. Am nächsten Tag gaben sie sie ab und bekamen einen neuen Anhänger mit Wassermelonen geliefert. Das war für niemanden ein Spaß, sondern eine Kraftprobe. Nach zwei Wochen durften sie, völlig erschöpft, nach Hause gehen. Das Saatgut für das kommende Jahr war gesichert. Manche Genossen klauten die Wassermelonenkerne in der Kolchose und brachten sie nach Dagestan ans Kaspische Meer, wo sie die Kerne gegen Fische und schwarzen Kaviar tauschten.
    Onkel Joe hat als junger Mann mehrere Sommer in einer solchen Melonenfresserbrigade verbracht und erzählte uns genüsslich, wie sehr sich ein Mensch verändert, wenn er sich längere Zeit nur von Wassermelonen ernährt. Der Onkel kennt sich mit Wassermelonen sehr gut aus. Wenn er einkauft, hat er beim Auswählen eine besonders glückliche Hand. Er weiß nämlich genau, wie es in einer Wassermelone aussieht, ob sie süß oder sauer schmeckt, wässrig oder fleischig, matschig oder fest, und was die breiten Streifen auf ihrem Buckel bedeuten. Es gibt im Kaukasus tausend Möglichkeiten, eine richtige, süße Wassermelone zu erkennen. Für viele ist es eine Art Sport, eine Lotterie nach dem Motto: Zieh die richtige, und schneide sie gleich auf, damit alle sehen, wie erfahren du bist. Als Erstes macht der Wassermelonenkäufer eine ernste Miene und fragt den Verkäufer, wo er herkommt und ob seine Ware gespritzt ist. Diese Frage ist eine kaukasische Höflichkeitsfloskel. Jeder erfahrene Käufer kann die gespritzten Wassermelonen mit bloßem Auge erkennen, weil sie an den Seiten meist helle Flecken haben, die von einer Injektion übrig geblieben sind. Der Verkäufer verneint die Frage natürlich und wirbt für seine Wassermelonen oder Wassermeloninnen. Im kaukasischen Bewusstsein ist die Wassermelone wie gesagt eine Beere und hat als solche zwei Geschlechter. Die geschlechtsspezifischen Unterschiede sind jedem Kind bekannt. Alle Wassermelonen haben zwar auf der einen Seite ein kleines gekrümmtes Schwänzchen. Doch die Weibchen haben auf der anderen Seite eine Wölbung und die Männchen einen kleinen Auswuchs. Die Wassermelonen, die Mädchen sind, gelten als besonders süß und zart, die Jungs sind dafür fester und halten die pralle Sonne länger aus.
    Der Melonenkäufer wählt eine Wassermelone und sticht ihm/ihr als Erstes mit dem Nagel oder mit einem kleinen Messer leicht in die Brust, um festzustellen, ob sie schon reif ist. Das Messer sollte in die Melone schneiden wie Butter. Danach veranstaltet der Käufer noch allerlei Rituale mit der Beere, als ob er sie nicht essen, sondern heiraten will. Er presst die Arme fest an den Seiten zusammen, drückt sich die Melone ans Herz und schüttelt sie kräftig. Anschließend untersucht er das kleine Schwänzchen: Bei einer gesunden Wassermelone soll das Schwänzchen trocken und kurvig gewickelt sein. Als letzte Prüfung gibt der Käufer der Melone eine leichte Kopfnuss, legt sein Ohr an ihren Bauch und lauscht den Geräuschen im Inneren der Beere.
    Trotz intensiver Befragung in der Familie gelang es mir nicht herauszufinden, auf welche Musik der Käufer in diesem Fall wartet, was ein richtiges und was ein falsches Melonengeräusch ist. Soll die Wassermelone stöhnen, gurren oder piepen? Soll sie vielleicht in ihrer speziellen Melonensprache dem Käufer ihre Geheimnisse verraten? Ich habe mehrere Wassermelonen hin und her geschubst und gelauscht, konnte aber nichts hören. Wahrscheinlich bleibt ihre Stimme für Nichtkaukasier unhörbar. Der Gerechtigkeit halber muss ich hinzufügen: Trotz solch ausgeklügelter Taktiken und Einkaufsmethoden kaufen viele Nachbarn immer wieder falsch ein. Sie bekommen saure Beeren und schimpfen über
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