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Meine kaukasische Schwiegermutter

Meine kaukasische Schwiegermutter

Titel: Meine kaukasische Schwiegermutter
Autoren: Wladimir Kaminer
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beide an, in der Öffentlichkeit zu singen, ohne sich vorher abgesprochen zu haben: Meine Schwiegermutter sang im Chor des Öl- und Gas-Instituts auf der großen Bühne des Kulturklubs russische Volkslieder. Mick Jagger trat in den zahlreichen Klubs in und um London mit englischen Songs auf.
    Was geschah mit den beiden danach? Meine Schwiegermutter heiratete und fuhr mit ihrem Mann zusammen nach Sachalin, wo die beiden fünfundzwanzig Jahre lang als Geologen nach Öl und anderen Bodenschätzen suchten. Erst als Frührentner kehrten sie 1990 in ihre Heimatstadt Grosny zurück. Sie kauften sich ein Häuschen in der Stadt, nicht weit vom zentralen Platz des Sieges entfernt. Ein Jahr später brach der Aufstand aus. Die Panzer der sowjetischen Armee rückten in die Stadt vor und wurden von den tschetschenischen Partisanen mit Stinger-Raketen außer Gefecht gesetzt. Der Mann meiner Schwiegermutter starb, und sie musste ihr Haus mit seiner alten Jagdflinte mehrmals allein gegen die Rebellen verteidigen. Inzwischen weiß alle Welt, dass eine reguläre Armee im Kampf gegen Partisanen keine Chance hat. Auch dieser Krieg endete also mit einer Niederlage der Russen. Ihr letztes Bollwerk, das Eiscafé Minütchen auf dem Platz des Sieges, wurde von den tschetschenischen Rebellen eingekesselt. Dort befand sich der Stab von General Elisarow, dem Führer des russischen Marineregiments, dem man wegen seiner Rücksichtslosigkeit den Spitznamen »Schwarzer Tiger« gegeben hatte. Seine Offiziere hatten das Eiscafé in eine Festung verwandelt. Drei Tage hintereinander versuchten die Rebellen, sie zu stürmen – vergeblich. Ihre Leichen bedeckten den Platz des Sieges. Doch dann ging den Russen die Munition aus. Der »Schwarze Tiger« schoss sich eine Kugel in den Kopf. Meine Schwiegermutter flüchtete zusammen mit fünf anderen russischen Familien über die Grenze und ließ sich auf der erwähnten Farm nieder. Jedes Mal, wenn die Kosaken dort ein Fest feiern, bitten sie meine Schwiegermutter, für den Gesang zu sorgen.
    Mick Jagger hat in der Zeit auch nicht geschlafen. Er wurde professioneller Sänger, gründete die Band Rolling Stones, wurde damit weltberühmt und heiratete mehrmals. Auch nach vierzig Jahren tritt er noch auf allen möglichen Bühnen auf. In einem goldenen Anzug singt und tanzt und springt er wie ein Teenager herum. Genau wie meine Schwiegermutter wird auch er einfach nicht alt.
     

 
2 -
Die russische
Volkspost
     

     

Als ich heiratete, merkte ich, dass die Familie meiner Frau viel komplizierter gestrickt war als meine. Diese Familie war viel größer und dehnte sich geographisch über zehntausende von Kilometer aus – nach Süden und Norden über die ganze ehemalige Sowjetunion. Die Mitglieder hielten immer zusammen, selbst wenn sie einander kaum verstanden. Im neunzehnten Jahrhundert war die Familie wahrscheinlich noch größer gewesen. Als ich sie kennenlernte, sah der aktuelle Stand folgendermaßen aus: Im Zentrum der Familie stand Wassa Petrowna, die Großmutter meiner Frau. Sie hatte zwei Mal geheiratet, einmal vor und einmal nach dem Krieg, nachdem ihr erster Mann gefallen war. Den zwei Ehen entstammten drei Töchter und ein Sohn. Die älteste Tochter, Anastasia, heiratete ebenfalls zwei Mal, zuerst einen Traktoristen und dann einen Jongleur aus einem Wanderzirkus. Sie bekam zwei Kinder. Ihr Sohn kam sehr früh vom rechten Weg ab und saß zwei Mal wegen missglückter Raubüberfälle im Knast. Später bereute er seine kriminelle Karriere zwar, konnte sich aber trotzdem keinen anderen Job vorstellen. Wir haben uns einmal bei einer Familienfeier kennengelernt. Der Mann stand nüchtern und leise auf dem Hof vor dem Grill und starrte ins Feuer, während die anderen am Tisch Lieder sangen.
    »Tolle Uhr!«, sagte meine Frau zu ihm und zeigte auf seine Armbanduhr, eine Rolex.
    »Kannst du haben«, erwiderte er und krempelte die Ärmel hoch. Am Arm trug er noch zehn weitere Uhren. Außer Uhren hatte er noch eine Frau und ein Kind in Weißrussland. Die Frau hatte er während seiner Knastzeit kennengelernt. Noch während er einsaß, bekam er einen Brief von einer Unbekannten. Die Frau fühlte sich in der Freiheit wie im Gefängnis und wollte einem richtigen Knacki Briefe schreiben. Sie schrieben einander fünf Jahre lang, und sie wartete auf ihn, bis er entlassen wurde. Dann heirateten die beiden, aber die Romantik war inzwischen verflogen. Ohne Briefe funktionierte ihre Beziehung nicht.
    Die Tochter von Anastasia
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