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Meine kaukasische Schwiegermutter

Meine kaukasische Schwiegermutter

Titel: Meine kaukasische Schwiegermutter
Autoren: Wladimir Kaminer
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muss nun nicht mehr galant um die Frau kämpfen, Unmengen an Geld in teuren Restaurants ausgeben oder die Frau mit seinem Intellekt erpressen. Es reicht schon, sich mit dem entsprechenden Pheromon zu übergießen, danach wird er sich vor Frauen nicht retten können. Umgekehrt galt dasselbe für das weibliche Geschlecht. Die Frauen müssen nun nicht mehr in Stöckelschuhen und engen Miniröcken durch die Steppe torkeln, es reicht, wenn sie sich ein paar Pheromone aufs Haar schütten, und alle Männer des Kaukasus liegen ihnen zu Füßen. Ich musste über dieses Angebot lachen. Meine Landsleute hatten schon immer eine Schwäche für einfache Lösungen von komplexen Problemen. Menschen, die einander durch Einsatz von Chemikalien finden, Mäuse, die sich von alleine ankleben, Schweine, die über Nacht wachsen.
    In einer Ecke des Postamtes stand ein kleiner Kiosk mit der Aufschrift »Volksapotheke«. Eine mollige Dame, die gerade noch in den Kiosk passte, saß darin auf einem kleinen Stuhl und verkaufte getrocknete Birkenblätter, Gräser, Blüten und andere Naturprodukte. Neben den Pflanzen lagen Zettel, die Deppen wie mich über die magische Wirkung der Mittel aufklärten. Die Erklärungen waren in einer knappen verständlichen Sprache verfasst. »Gut für Herz und Penis« stand zum Beispiel bei mehreren Trockenfrüchten. Neben einem Karton mit eklig aussehenden schwarzen Wurzeln hatte die Hand des Volkes »macht glücklich« geschrieben. Ich schüttelte nur den Kopf. Im Westen, wo wir seit zwanzig Jahren leben, ist der Weg zum Glück sehr viel umständlicher. Jedes Jahr werden dort Dutzende von Ratgebern zu diesem Thema verfasst. Wenn man diesen Sachbüchern Glauben schenkt, muss man mindestens ein buddhistischer, schlanker und erfolgreicher Steuerhinterzieher sein, um sich im Westen einigermaßen glücklich schätzen zu können. Im Kaukasus holen sich die Menschen einfach eine Glückswurzel für dreißig Rubel bei der Post. Glück ist im Kaukasus billiger als ein Kondom.
    Die Mehrheit der Kunden, die vor dem Fensterchen dieser Volksapotheke knieten, waren alte erfahrene Hasen, die genau wussten, was ihnen fehlte. Viele hatten Zettel dabei, die sie der Verkäuferin vor die Nase hielten. Sie stellte ihnen daraufhin schweigsam und konzentriert ihre Elixiere zusammen und kassierte. Nur ganz wenige Kunden zeigten sich der Volksmedizin gegenüber misstrauisch.
    »Hilft das denn wirklich?«, fragten sie die Verkäuferin fast verzweifelt.
    Die Frau im Kiosk reagierte verärgert, zuckte mit der Schulter, schaute zur Decke hoch und antwortete jedes Mal mit dem gleichen Satz: »Ich selbst hab’s ja nicht nötig. Aber ich kenne ein Mädchen, dem hat’s geholfen.«
    Die Menschen nickten, zahlten, nahmen die Medizin, taten Gutes für Penis und Herz oder wurden auf der Stelle glücklich.
    Diese Szene erinnerte mich an das Jahr 1990, die Zeit des großen Umbruchs, als das erste demokratisch gewählte Parlament am Entwurf des neuen russischen Grundgesetzes arbeitete. Damals schlug der Physiker und ehemalige Dissident Andrej Sacharow vor, als Erstes im Grundgesetz festzulegen, dass »jeder Bürger das Recht auf Leben, Freiheit und Glück hat«.
    »Der Staat kann dem Bürger sein Glück nicht garantieren«, widersprach ihm der Chefphilologe des Landes, Sergej Averinzew.
    »Warum nicht?«, ließ Sacharow nicht locker. »Die Amerikaner tun es doch auch, oder?«
    »Nein«, erklärte ihm Averinzew, »die Amerikaner tun es nicht. Bei den Amerikanern steht lediglich in einer Deklaration, dass jeder Bürger Amerikas das Recht hat, jederzeit nach dem Glück zu streben – auf gesetzlich vorgeschriebenen Wegen.«
    »Dann werden wir die Ersten sein, die das Recht auf Glück gesetzlich festschreiben!«, meinte Sacharow, der große Visionär, stolz.
    Bis heute hat Russland diese Teenager-Mentalität beibehalten: Wir müssen entweder die Ersten sein oder spielen gar nicht erst mit. Wie mein neunjähriger Sohn, der im Stadion oft quer übers Feld läuft, um am Ziel zwar von der falschen Seite, aber dafür als Erster anzukommen. Ähnlich ist es mit Russland. Ein ganzes Land läuft quer. Nicht alle Visionen aus den Zeiten des demokratischen Umbruchs sind Realität geworden. Im Grunde keine einzige. Aber ganz aussichtslos ist die Sache nicht. Es gibt ja immer noch die preiswerten Glückswurzeln bei der Post.
    »Hilfe!«, rief meine Frau plötzlich, während ich noch vor dem Volksmedizinkiosk stand, in Gedanken über das Glück der Menschheit vertieft.
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