Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Meine kaukasische Schwiegermutter

Meine kaukasische Schwiegermutter

Titel: Meine kaukasische Schwiegermutter
Autoren: Wladimir Kaminer
Vom Netzwerk:
Das Registrierungsprozedere hatte sie völlig überfordert. Wir mussten dazu in einem speziellen Formular außer den Passnummern und anderen Daten zwei Mal unsere Wohnadresse und zwei Mal die des Gastgebers in Druckschrift eintragen, so dass jeder Buchstabe in ein dafür vorgesehenes Feld passte. Wir waren mit den Kindern zusammen zu viert. Die Adresse des Gastgebers lautete Russische Föderation, Stavropolskij Kraj Mineralowodskij Rajon, Selo Borodinowka uliza Stepnaja 5. Das waren 87 mal 8, also insgesamt 694 Felder, die es auszufüllen galt. Dazu kam noch, dass meine Frau bei der Passnummer des Gastgebers eine Zahl falsch eingetragen hatte und nun alles neu schreiben musste. Neben ihr stand eine achtköpfige Familie aus Aserbaidschan, die nicht wusste, dass Aserbaidschan im Russischen mit »j« in der Mitte geschrieben wird. Die Postbeamtin wollte ihre Papiere wegen dieses Schreibfehlers nicht annehmen.
    »Wo soll in Aserbaidschan ein ›j‹ sein?«, regte sich das Familienoberhaupt auf. »Ich kenne ein solches Land nicht!«
    »Sie irren sich«, konterte die Postbeamtin. »Es gibt nur ein Aserbajdschan, und das schreibt sich mit ›j‹. Das Land, das Sie in Ihrem Formular eingetragen haben, existiert nicht.«
    »Was heißt, es existiert nicht? Ich habe mein ganzes Leben in Aserbaidschan ohne ›j‹ verbracht! Ich weiß nicht, woher dieser Buchstabe gekommen sein soll, und Sie sagen, das ganze Land existiert nicht?«, explodierte der temperamentvolle kinderreiche Familienvater.
    Es roch nach Krieg. Um die Situation zu entspannen, kaufte ich zwei Pheromonfläschchen, männlich und weiblich, und verteilte heimlich den Inhalt in der Filiale in der Erwartung, dass die Menschen ab sofort freundlicher miteinander umgehen würden. Sie wurden aber dadurch nur noch lauter. Wir schrieben die Passnummer noch einmal neu auf, gaben unsere Papiere ab und verließen schnell die Post. Auf dem Weg zum Dorf schaute ich mich ständig um. Nachdem ich mir nämlich die Hände mit den Pheromonen nass gemacht hatte, wartete ich nun gespannt auf die Wirkung. Es passierte aber rein gar nichts, kein Fremder fühlte sich zu mir hingezogen und wenn doch, zeigte er sich nicht. Nur die Hühner unseres Nachbarn Gleb Michailowitsch liefen hinter mir her. Doch sie waren auch vorher schon immer hinter mir hergelaufen. Manchmal mögen sich Lebewesen halt – einfach so, ganz ohne Pheromone.
     

 
4 -
Die Wassermelonenzeit
     

     

Die kapitalistische Konsumhektik kennt keine Jahreszeiten, alles muss zu jeder Zeit vorhanden sein. Fische, Obst und Gemüse werden hin und her geflogen oder in Chemielaboratorien künstlich gezüchtet. Sie werden das ganze Jahr über angeboten und verlieren dadurch ihre Einmaligkeit, ihren besonderen Stellenwert im Kreislauf der Natur. Nur der Spargel kämpft noch etwas gegen den Gesichtsverlust und die Erniedrigung des Gemüses, aber diese Ausnahme bestätigt bloß die Regel. Alles ist im Sonderangebot, liegt an jeder Ecke und schmeckt nicht. Die ständige gleichzeitige Anwesenheit aller Lebensmittel verdirbt vielen den Appetit, die Leute beschweren sich, dass Pfirsiche oder Kirschen keinen Geschmack mehr haben. Aber wie sollen Früchte im Dezember schon schmecken, diese unreife Chemiezucht, die ewig in den Regalen glänzt und nicht einmal mehr anständig verderben kann. Sie besteht zur Hälfte aus Wasser, zur Hälfte aus Gier. Der sogenannte freie Markt betreibt auf diese Weise Diebstahl, denn den Menschen wird ein lebenswichtiges Kulturgut entzogen – die Abwechslung. Und ohne Abwechslung gibt es kein Verlangen, keine Träume, keine Lust. Es bleibt nur noch frustfressen, bis der Arzt kommt.
    In der archaischen Gesellschaft des Nordkaukasus hat jedes Essen seinen speziellen Platz, jede Pflanze und jede Beere hat ihre fünfzehn Sekunden Ruhm. Wenn sie reift, ist die Aufmerksamkeit der Bevölkerung nur auf sie gerichtet, so lange, bis die nächste Leckerei kommt. Die Zeit Ende Juli gehört den Pflaumen, der Septemberanfang gehört dem Wein. Zwischen den Pflaumen und dem Wein liegt die Melonenzeit. In diesen Wochen wird die Bevölkerung unter Wassermelonen buchstäblich begraben. Sie gelten in Russland traditionell als Beeren, werden nach Zentnern verkauft und in großen Fässern mit kaltem Wasser gelagert, die in jedem Garten stehen. Im August rasen die Melonen-Laster durch die Gegend, von Dorf zu Dorf, wo die Melonenmänner dann vom LKW aus feilschen und handeln. Die Preise für Wassermelonen bewegen sich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher