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Meine kaukasische Schwiegermutter

Meine kaukasische Schwiegermutter

Titel: Meine kaukasische Schwiegermutter
Autoren: Wladimir Kaminer
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Erste Mai übrig geblieben, der in Russland nach wie vor als Tag der Solidarität der Arbeiterklasse groß aufgezogen wird. In dem grassierenden neurussischen Turbokapitalismus, der mit Niedriglöhnen und verlängerten Arbeitszeiten massiven Druck auf die arbeitende Bevölkerung ausübt, haben die Arbeiter ihre Solidarität mit den kapitalismuserfahreneren Kollegen aus der übrigen Welt quasi neu entdeckt. Die postsozialistische Gegenwart hat dagegen kaum große Feste mit sich gebracht, außer Weihnachten, das in Russland ohne Krippe und den ganzen Schnickschnack drumherum gefeiert wird. Das Weihnachtsfest kommt Anfang Januar und wird leise und nachdenklich begangen als eine Art Rückbesinnung nach den wilden Schweinereien der Silvesterparty, die manchmal länger als eine Nacht dauert. Wenn die letzten Knaller verglüht und die letzten Weihnachtsmänner, die auf Russisch Opa Frost heißen, von ihren Schneewittchen nach Hause getragen worden sind, dann kommt die Weihnachtszeit.
    Die drei wichtigsten russischen Feiertage heute haben nichts mehr mit dem Beruf eines Menschen zu tun. Es sind im Grunde drei gewöhnliche Familienfeste, die das Leben jedes Einzelnen abrunden, vom Geburtstag einmal abgesehen: Es sind die Taufe, die Hochzeit und die Trauerfeier. Alle drei Feste erfordern von der Familie einen enormen Zeit- und Geldaufwand. Alle dauern länger als einen Tag und erinnern mehr an eine Demo als an ein Familienfest. Eine Hochzeit oder Trauerfeier mit weniger als hundert Gästen wird von der Bevölkerung gar nicht als solche anerkannt. Unsere nordkaukasische Verwandtschaft besitzt eine Kantine in der russischen Provinz an einer Ausfahrt der föderalen Straße M29 Rostow-Baku, auch als Schnellstraße Kaukasus bekannt. In dieser Cafeteria haben sie sich auf die Vorbereitung und Organisation solcher Feste spezialisiert. Der Chef der Kantine ist Onkel Joe, seine Frau kocht, seine Töchter machen die Buchhaltung, und der Schwiegersohn kauft die Lebensmittel ein. Von 11.00 bis 16.00 Uhr gibt es in der Kantine ein Mittagessen für dreißig Rubel, umgerechnet weniger als ein Euro. Das Mittagessen besteht aus einer Suppe, einem Fisch- bzw. Fleischgericht sowie einem süßsauren, aus eigenem Obst gekochten Kompott als Dessert. Selbst in der relativ armen russischen Provinz erinnern solche Preise mehr an den Sozialismus als an die auch hier jetzt herrschenden kapitalistischen Verhältnisse.
    Typisch für den Nordkaukasus ist diese Form der gesellschaftlichen Ernährung nicht. Auch hier wird die öffentliche Gastronomie von schicken Restaurants beherrscht. Die Restaurants im Kaukasus sind von einer Aura des Pathos umgeben. Nicht selten tragen sie Namen gefallener Volkshelden und ermordeter Freiheitskämpfer und erfordern von ihren Besuchern neben einer dicken Geldbörse, die selbstverständlich nicht fehlen darf, auch etwas Heldentum. Anders als in Europa, wo ein Löffel Zucker und eine Scheibe Zitrone im Preis inbegriffen sind, muss man in kaukasischen Restaurants für alles einzeln bezahlen. Sogar der Preis für eine bekleckerte Tischdecke und ein kaputtgegangenes Glas lässt sich auf der letzten Seite der Speisekarte finden. Für die Bedienung und das musikalische Programm wird ebenfalls eine Extragebühr eingezogen.
    Auf diese Weise kann man den Endpreis für seine Bestellung nicht immer einschätzen. So musste ich zum Beispiel im Restaurant Bolivar für das dortige Hausmixgetränk Der feurige Bolivar 480 Rubel, umgerechnet dreizehn Euro, bezahlen. Der feurige Bolivar erwies sich als Alkoholgetränk, eine Mischung aus schwarzem Rum und braunem Tequila, das Ganze mit etwas Kaffee abgemildert. Normalerweise, so glaube ich, wird dieses deutlich überteuerte Getränk mit einer Pistole serviert sowie einem Pferd, das vor der Tür wartet und mit jedem Kunden, der den »Kaffee« bestellt hat, danach noch zwei Runden um das Restaurant reitet, wobei er wild um sich schießen darf. Da ich mit Pferden und Pistolen nicht gut kann, habe ich es nicht darauf ankommen lassen, bezahlte stattdessen und ging an die frische Luft – in Begleitung einer Blaskapelle, die jeden Gast musikalisch verabschiedet, der den Mut hatte, den Feurigen Bolivar zu bestellen.
    Wer geht in diese peinlichen Läden? Reiche Touristen, gelangweilte Hauptstädter, die in den umliegenden Kurorten Urlaub machen, schnurrbärtige Männer aus den Bergen, die ihre blonden Begleiterinnen beeindrucken wollen, sowie hungrige Autofahrer, die zwischen Rostow und Baku pendeln.
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