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Meine kaukasische Schwiegermutter

Meine kaukasische Schwiegermutter

Titel: Meine kaukasische Schwiegermutter
Autoren: Wladimir Kaminer
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Der Gerechtigkeit halber muss ich sagen, dass manches in den kaukasischen Restaurants sehr gut schmeckt, wenn es auch etwas überteuert ist. Die Köche dort sind große Meister des Grillens, vor allem Fisch können sie auf glühenden Kohlen hervorragend zubereiten. Natürlich schmeckt es nirgendwo annähernd so gut wie in der Kantine von Onkel Joe. Doch sein Lokal bleibt für Touristen und Fremde unsichtbar, es verschwindet im Schatten der teuren Abzockläden mit ihren großen Werbewänden, Terrassen mit Wasserfällen und Blaskapellen. Für ein fremdes Auge sieht die Kantine von Onkel Joe aus wie ein kleiner dörflicher Lebensmittelladen. Der Chef sagt, er will die Aufmerksamkeit der Fremden gar nicht.
    »Wir ernähren die arbeitende Bevölkerung vor Ort, wir unterstützen die Arbeitskräfte der Region«, behauptet er, ein großer nordkaukasischer Patriot.
    Die »regionalen Arbeitskräfte«, das ist in erster Linie eine Einheit der russischen Marine, die in der Nähe die russische Grenze zu Tschetschenien sichert und jeden Tag zur gleichen Zeit in der Kantine zu Mittag isst. Danach kommen die Streifenpolizisten von der M29. Oft fahren sie mit Blaulicht und Sirene zum Essen, um das Kompott nicht zu verpassen. Die Feuerwehrmänner kommen ebenfalls und auch die Mitarbeiter der notärztlichen Station, die zwei Kilometer entfernt ist, sowie die KFZ-Mechaniker vom Autoservice schräg gegenüber. Alle loben das Essen und küssen der Köchin die Hand. Die Kantine existiert eigentlich nur dank des Enthusiasmus ihrer Mitarbeiter, sie macht viel Arbeit und bringt kaum Gewinn. Sie hat keine Genehmigung für einen Abendbetrieb und muss daher spätestens um 18.00 Uhr schließen. Doch die Familie hängt an ihrem Laden.
    In diesem Jahr haben sie anscheinend doch noch eine kapitalistische Verwendung für ihre Küche gefunden. Es hat mit einem Zufall angefangen. Ein Dorfbewohner, ein langjähriger Kunde, wurde von einem Laster überfahren. Seine Familie wollte die Trauerfeier unbedingt in der Kantine stattfinden lassen, also organisierte Onkel Joe die Trauerfeier. Zeitlich passt die Sache perfekt in die Kantine. In Russland wird der Tote in der Regel am frühen Vormittag beigesetzt, und nach dem Friedhof müssen Freunde und Verwandte auf das Wohl des Verstorbenen etwas essen und trinken, damit ihm »der Tod leichter bekommt«. Diese Geste ist in der russischen Kultur von großer Bedeutung.
    Onkel Joes Trauerfeier kam gut an, alle waren begeistert. Schnell stieg die Kantine zur beliebtesten Trauerfeierstätte des Bezirks auf. Außerdem stellte sich heraus, dass Joes Nachbar Juri Wladimirowitsch hervorragend Akkordeon spielen und viele traurige oder auf Wunsch auch feurige Lieder singen konnte. Inzwischen hat die Kantine auf diesem Gebiet Kultstatus. Im August dieses Jahres wurden die Leute regelrecht hysterisch. Quicklebendige Menschen schrieben sich in das Reservierungsbuch für Trauerfeiern ein. Andere wollten sofort sterben. »Sie machen das alles so gut, wozu noch leben?«, ließen sie der Küche ausrichten. Man merkte sofort, dass den Menschen die Feste fehlten. So sind die Russen – sie sitzen gerne an langen Tischen, sie stoßen gerne mit halb Unbekannten an, und sie singen gerne im Chor.
    Der Kapitalismus bietet leider wenig Anlass für anständige Feiern. Gut, auf dem Lande im Nordkaukasus, wo die Menschen in großen Familien mit Kindern, Alten, Hühnern und Kühen zusammenleben und die Gesellschaft noch nicht so stark auf Individuen reduziert ist wie in der Stadt, feiern sie manchmal ungewöhnliche Feste. So wird zum Beispiel im Dorf unserer Verwandtschaft an jedem ersten Sonntag im Juni »Der Tag der Straße« gefeiert. An diesem Tag wurde vor fünfzehn Jahren die Steppenstraße im Dorf Borodinowka gegründet, offiziell als Postadresse anerkannt und in was weiß ich welches Adressbuch eingetragen. Seitdem feiern die Anwohner jedes Jahr den »Tag der Straße«. Lange Bänke und Tische werden aus den Höfen herausgetragen und mitten auf der Straße zusammengestellt. Jeder Haushalt ist für drei Meter Tisch verantwortlich, den er mit hausgemachtem Essen und Schnaps voll stellt. Dabei versucht natürlich jeder, seine Nachbarn zu übertrumpfen. Der Imker prahlt mit seinem Honig, die Kuhbesitzer mit ihren Milchprodukten, und alle prahlen mit ihrem Schnaps. Der eine mischt Zitronenschale dazu, der andere nimmt Zedernholz, ein Dritter experimentiert mit Melonenschalen. Den Schnaps eines Nachbarn nicht zu probieren, gilt als grobe
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