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Meine kaukasische Schwiegermutter

Meine kaukasische Schwiegermutter

Titel: Meine kaukasische Schwiegermutter
Autoren: Wladimir Kaminer
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Beleidigung und kann nur durch Austrinken eines großen Horns wiedergutgemacht werden.
    Es gibt dort aber noch ein weiteres Fest, das mich sehr berührt hat: Wenn jemand, der an der Steppenstraße wohnt, von Freunden oder Verwandten Besuch bekommt, die länger als drei Tage bleiben, muss er alle Nachbarn davon in Kenntnis setzen, am vierten Tag einen Tisch decken und die Nachbarn einladen. Sie kommen nicht mit leeren Händen, sondern jeder mit seiner Hausspezialität, die meisten mit ihrem Schnaps. Der Besuch wird vom Gastgeber vorgestellt, die Nachbarn stellen sich ebenfalls alle förmlich vor. Danach soll der Gast etwas über sich erzählen, was er so macht und wo er arbeitet. Später wird gegessen, gesungen und getanzt. Wenn der Besuch bei der Straße gut ankommt, kann die Vorstellung jeden Sonntag wiederholt werden, bis der Besuch schließlich etwas angeschlagen, aber glücklich, mit Koffern, Geschenken – Schnaps, Honig, noch einem und noch einem anderen Schnaps – endlich abreist.
     

 
6 -
Unter Strom
     

     

Wir kommen aus einem Land, das ziemlich spät, und zwar von Kommunisten, zwangselektrifiziert wurde. Die Russen mochten die Dunkelheit und wehrten sich gegen ihre Elektrifizierung unter anderem, indem sie Glühbirnen klauten oder kaputtmachten. Dabei war die russische Wissenschaft immer ganz vorne mit dabei, viel Wichtiges ist von Russen erfunden und entdeckt worden wie das Periodensystem, die Saturnringe oder die Dampfmaschine. Die Lichtbogenlampe wurde zum Beispiel von dem russischen Ingenieur Ladigin erfunden. Fünf Jahre später vervollkommnete Edison diese Erfindung und patentierte sie.
    Die Russen erfanden jede Menge Sachen, konnten aber mit ihren Entdeckungen nichts anfangen. Sie waren nicht pragmatisch genug. Deswegen blieb die Heimat des wahren Erfinders der Glühbirne lange Zeit im Dunkeln. Erst Lenin, der Führer der russischen Revolution, brachte mit seinem Spruch »Kommunismus gleich Sowjetmacht plus Elektrifizierung« die Erleuchtung des ganzen Landes ins Rollen. Russland war ein großes anarchisches Land und drohte seinen Herrschern ständig zu entgleiten. Napoleon sagte einmal, Russland könne relativ schnell erobert werden, aber es zu beherrschen, sei unmöglich. Das spürten auch die bolschewistischen Führer. Sie konnten die Banken, die Telegrafen, die Post kontrollieren, große Städte und Eisenbahnlinien. Doch zwei Kilometer von der Eisenbahn entfernt war ihre Macht schon zu Ende. Deswegen bauten sie überall Kraftwerke und hängten im ganzen Land Glühbirnen auf, um auf diese Weise die Bevölkerung unter Kontrolle zu bringen. Aber Russland ist kein Wunschbrunnen. Egal was man sich wünscht, es kommt immer anders. Statt mehr Kontrolle entstand durch die Elektrifizierung noch mehr Anarchie. Sie zeigte sich im Verpulvern von Unmengen Elektrizität. Egal, wie viel man verbrauchte, alle zahlten die gleiche symbolische Monatspauschale pro Wohneinheit. Glühbirnen waren zwar anfänglich noch Mangelware – in den Gemeinschaftswohnungen ging jeder mit seiner eigenen Glühbirne auf die Toilette –, aber der Strom floss unentwegt. Dasselbe galt auch für Gas und Sprit: Autos waren teuer, Sprit kostete nichts.
    Mit dem Aufbau der kapitalistischen Verhältnisse entdeckten Staatshalter und Wirtschaftsbosse, die oft in Russland in derselben Person auftreten, Bodenschätze und Kraftwerkskapazitäten als Quellen ihres Reichtums. Plötzlich verlangten sie Geld für Dinge, die im Sozialismus umsonst und eine Selbstverständlichkeit für jeden waren: Medizin, Benzin, Strom. Die Stadtbewohner mussten plötzlich pro Kilowatt zahlen.
    Doch auch der Kapitalismus konnte Russland nicht ganz erobern. Draußen auf dem Land, zwei Kilometer von der nächsten Eisenbahnlinie entfernt, im dunklen Reich der russischen Anarchie, zahlt man nach wie vor nichts für Strom. Entweder laufen dort die Stromzähler in die falsche Richtung, oder die Stromzählerableser werden korrumpiert. Ein weiteres Beispiel für den Erfindungsreichtum ist in dieser Hinsicht das nordkaukasische Dorf meiner Schwiegermutter. Die Bewohner dieses Dorfes beziehen ihren Strom direkt von der Eisenbahn. Sie haben die Eisenbahnstromleitung angezapft und mit einem dicken Transformator den Starkstrom in einen für zivile Zwecke tauglichen Strom umgewandelt. Die Eisenbahn weiß natürlich Bescheid, will aber aus Prinzip nichts unternehmen. Immerhin fahren die Züge ständig an dem Dorf vorbei, und alle Schwellen und Gleise sind noch da. Auch die
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