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Meine 500 besten Freunde

Meine 500 besten Freunde

Titel: Meine 500 besten Freunde
Autoren: Johanna Adorján
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warum?« »Nur so«. Sie sagt es zärtlich oder mütterlich, jedenfalls mitfühlend oder mitleidig, jedenfalls anders, als ich es gedacht hätte. Ihr Tonfall erscheint mir wie eine Falle, aus der es kein Entrinnen gibt. Meine Gedanken drehen sich im Kreis, ich versuche, sie anzuhalten, eventuell sogar zu ordnen. Kann es sein, dass es Fotos von A. und mir gibt? Wir waren immer vorsichtig, aber wer weiß. Ich versuche, mich erneut auf die Handtasche zu konzentrieren, doch der kleine japanische Beutel verschwimmt vor meinem inneren Auge zu einem bunten Fleck, der plötzlich nur noch gelb ist, und es will mir auch nicht gelingen, in Gedanken noch einmal zur Balustrade in den zweiten Stock hinaufzukommen. Viel zu hoch im Moment. Da stehen wir nun, inzwischen gleichauf, wir sind etwa gleich groß, Delia Naters und ich. Diesen Moment teilen wir. Ob sie weiß, wer ich bin? Immerhin war ich zweimal im Bild. Schade, dass mir so schwindlig ist. Und dass meine innere Uhr nicht mehr funktioniert, ich habe jedes Zeitgefühl verloren. Als ich das Warten nicht länger aushalte, bin ich es, die das Schweigen bricht. »Wissen Sie zufällig, wie viel Uhr es ist?«, frage ich. Ich wollte sie duzen, habe es mir im letzten Moment anders überlegt und ärgere mich, als der Satz so devot zwischen uns hängt. Sie lächelt. Wissend? Vielsagend? Wenn ich tippen sollte, würde ich auf nachsichtig tippen, aber das zählt ja zum Basis-Repertoire ihres Berufs. Meine frühere Agentin hatte mich vor ihr gewarnt, meine jetzige sagt, man müsse sich gut mit ihr stellen, aber die weiß ja von meiner Affäre nichts. Ohne auf die Uhr zu gucken, sagt sie »Zwei«. Ich denke »erst?«, will »schon?« sagen, habe da aber schon »erst?« gesagt. Was ist los mit mir? Ich erkenne meinen Kopf nicht wieder. Wo normalerweise blitzende Geistesgegenwart herrscht, regiert drückende Schwere. Sie sieht mich immer noch an. Ich gebe es auf, ihren Blick deuten zu wollen. Aus ihrer Hochsteckfrisur hat sich immerhin eine Strähne gelöst, vielleicht hat sie jetzt Feierabend, ist privat, friedlich, desinteressiert. Und dann geht auf einmal alles ganz schnell, viel zu schnell, ich verstehe überhaupt nichts mehr. Plötzlich steht A. neben uns, ich erschrecke, will automatisch grüßen, doch er tut, als sähe er mich nicht. Stattdessen begrüßt er Delia Naters. Zwar nicht mit Küssen, aber immerhin. Hätte ich gar nicht gedacht. Wo ist denn auf einmal sein Berufsethos hin? Ich bin auf einmal total klar im Kopf, auf einmal so hell hier und so un-alles. Die beiden duzen sich, lachen, machen ein paar Bemerkungen über den Abend, bevor er meinem Blick nicht länger ausweichen kann, sich irgendwie verhalten muss. Er entscheidet sich für Folgendes: Er nickt mir zu. Bisschen banal, Kinn voraus. Aber wenn das die beiläufige Begrüßung einer flüchtigen Bekanntschaft sein sollte, dann herzlichen Glückwunsch, Oscarreif, unbegreiflich, dass dieser Jahrhundertschauspieler an diesem Abend leer ausgegangen sein soll. Jetzt dreht sich auch Delia Naters nach mir um, dicht gefolgt von ihrer losen Haarsträhne. »Kennt ih Se. end leer ar euch?« Mir ist schlecht. Ich weiß nicht, wie reagieren, gucke A. an, vielleicht hat der eine Idee? Natürlich registriert Delia Naters diesen Blick, liest meine Gedanken, erkennt die Wahrheit. Oder nicht? Ich weiß nicht, was dümmer wäre, sie zu unter- oder zu überschätzen. Also irgendwer muss jetzt was sagen. »Flüchtig«, sage ich. Er nickt. Mich trifft etwas Schweres, ich würde gerne sagen ins Herz, aber das stimmt nicht, es trifft mich im Magen. Auf einmal fächern sich vor mir all die mannigfaltigen Möglichkeiten auf, die sich nun darbieten. Ich könnte ihn ohrfeigen, schreien, wegrennen, was allerdings schwierig wäre in diesen Schuhen; ich könnte ihn anspucken, ihm ein Büschel Haare ausreißen, mir irgendwoher ein Getränk organisieren, um es ihm ins Gesicht zu kippen, aber woher nähme ich jetzt die Energie. Ich könnte mit dem Rauchen anfangen, um ihm die erste Zigarette meines Lebens auf dem Unterarm auszudrücken, Anlauf nehmen und ihm mit voller Wucht in die Eier treten, die zurückgekehrte Schwindligkeit ausnutzen und volle Kanne vor den beiden auf den Boden kotzen. Oder die Wahrheit sagen, die ganze, schön langsam, damit mitgeschrieben werden kann, was von der Aussage her natürlich dasselbe wäre. Ich entscheide mich für etwas anderes, strecke ihm meine Hand entgegen, die er, Improvisationsgenie, folgsam ergreift, und nenne
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