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0965 - Die zweite Unendlichkeit

0965 - Die zweite Unendlichkeit

Titel: 0965 - Die zweite Unendlichkeit
Autoren: Simon Borner
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»Es kann nicht mehr als eine Unendlichkeit geben, würden sich mehrere doch gegenseitig einschränken.«
    - Sir Walter Raleigh, britischer Entdecker
     
    »Würden die Pforten der Wahrnehmung gereinigt, erschiene den Menschen alles, wie es ist: unendlich.«
    - William Blake
     
    LEVEL I
    Kapitel 1: Der Immer-und-überall
    Man nannte ihn Hermann Schneider, doch dieser Name hatte für ihn keine Bedeutung. Sein wahres Ich hieß Kyrgon, denn so hatte er sich selbst getauft.
    Er rannte die Rolltreppe herab. Stufe um Stufe hechtete er abwärts, in den Untergrund des Frankfurter Hauptbahnhofs. Jeder Schritt ein federndes, den Tod bringendes Versprechen. Minuten waren vergangen, seit er die Kleine zuletzt gesehen hatte, aber er wusste genau, dass sie ihm nur wenige Meter voraus war. Das verriet ihm ihr Geruch. Das verriet ihm die Gier, die in seinem Inneren wütete und jede seiner Handlungen mit einer Euphorie erfüllte, wie es sie nur in Nächten wie dieser geben konnte.
    Oh, sie wusste, wer er war, spürte es. Sie hielt sich nicht mit Hermann-Schneider-Lügen auf, die so ärmliche Fassade waren, dass er seit Jahren erwartete, die ganze Welt würde sie durchschauen. Doch das geschah nicht. Nie. Manchmal glaubte er, die Welt wolle ihn gar nicht als das erkennen, was er war.
    Nur die Kinder der Nacht sahen ihn wirklich. Die Verlorenen. Stricher, Junkies, Penner, Möchtegernrebellen mit Metall in den Gesichtern und einer Zukunft, die sie wegwarfen, als besäße sie weniger Wert als ein Pappbecher. Sie waren es, die er am liebsten jagte, denn sie waren ihm ähnlich. Auch sie versteckten sich hinter einer Maske, verkleideten sich ihrer Überzeugung wegen. Doch wo er den Schneider gab, um nicht aufzufallen, wählten sie ihre Nieten und Piercings, Tattoos und No-Future-Haltung oft genug, um hervorzustechen. Sie glaubten sich als Teil einer Gemeinschaft, die den Durchblick für sich gepachtet hatte - und insbesondere die Jungen unter ihnen zählten zu seinen Lieblingsopfern.
    Der Moment, in dem ihr Leben aus ihnen herausströmte und ihr Potenzial ungenutzt in seinen Händen verging, war schlicht unbeschreiblich. Für den Jäger war er alle Fassaden wert, denn nur, wenn er Sterben brachte, war der Jäger wirklich er selbst. Nur dann, in diesen kurzen intimen Augenblicken, fühlte er sich wirklich wahrgenommen. Sie waren ihm eine Bestätigung, die er nirgends sonst finden konnte.
    Klappernde Schritte auf dem kahlen Betonboden rissen ihn aus seinen Gedanken. Er wandte sich nach rechts, sowie er das untere Ende der Rolltreppe erreicht hatte, und preschte ihnen nach. Zu dieser Stunde waren nahezu sämtliche Lokale und Geschäfte auf dieser unterirdischen Bahnhofsebene geschlossen. Bäckerbuden, Kioske, Zeitschriftenläden und Fast-Food-Küchen lagen hinter von Rollgittern geschützten Fenstern und Glastüren, dunkel und auf den Morgen wartend. Allein aus der Automatenspielhalle am anderen Ende der Passage drang noch vom Alkohol geschwängertes Gemurmel an sein übermenschliches Gehör, untermalt vom stupiden Gepiepe und Gedudele der Daddelgeräte.
    Er ignorierte es, blendete es aus. Ein Jäger musste immer und überall in der Lage sein, sich allein auf seine Beute zu konzentrieren, und nichts anderes versuchte er nun. Nach und nach verschwanden die dunklen Geschäfte aus seiner Sicht. Die von innen beleuchteten Fahrplanaushänge verblassten bis zur Unkenntlichkeit, und auch die elektronischen Ankunfts- und Abfahrtstafeln der Nah- und Fernzüge, die von der niedrigen Decke der Passage hingen, verloren in Windeseile an Form und Substanz. Natürlich nicht wirklich, wohl aber in seiner Wahrnehmung. Die Welt, wie normale Menschen sie sehen mochten, verkam zur Hintergrundbemalung, und ihre Geräusche vergingen mit ihr.
    Einzig die hektischen Schritte der Beute blieben. Er hörte sie so deutlich, als wären es seine eigenen, und als er sich noch ein wenig mehr konzentrierte, konnte er sogar die Rückstände auf dem Boden ausmachen, die die Beute mit ihren dreckigen Schuhen dort hinterlassen hatte.
    Er lächelte, als er das Ziel ihrer sinnlosen Flucht erkannte. Wie erbärmlich!
    Keine Minute später stand er im Eingangsbereich der versifften Damentoilette und schüttelte den Kopf. Nicht gerade der schönste Ort, um zu sterben - aber die Beute hatte ihn in ihrer blinden Flucht ausgewählt, und wer wäre er, einer Sterbenden diesen letzten Wunsch zu verübeln?
    Es kostete fünfzig Cent, das Drehkreuz zu bewegen, das den Ein- und Ausgang der
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