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Mein schwacher Wille geschehe

Titel: Mein schwacher Wille geschehe
Autoren: Harry Nutt
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über die alle reden, einfach noch nichts mitbekommen hat. Für den Charme unkonventioneller Umständlichkeit gibt es keine stabile Währung, aber es beruhigt, immer ein wenig bares dabei zu haben.
    Der Schriftsteller Michael R. hat sich jahrelang gegen jede Art technischen Schreibgeräts gewandt. Er schrieb seine Manuskripte stets mit der Hand und gebrauchte eine mechanische Schreibmaschine nur, um die Texte für andere in eine besser lesbare Form zu bringen. Der Gebrauch eines Computers, war er sich sicher, hätte ihn in eine schwere Schreibkrise gestürzt. Das ging Jahr für Jahr so und in den Redaktionen, die er regelmäßig und mit großer Zuverlässigkeit belieferte, wurde man zunehmend ungeduldig, da Kapazitäten für das neuerliche Erfassen seiner |215| Texte nicht mehr vorhanden waren. Die so genannte Textaufnahme war in allen Verlagen aus dem Haushaltsplan gestrichen, das entsprechende Personal entlassen. Wie Fremdkörper erreichten seine liebevoll getippten Manuskripte jedoch weiterhin die verzweifelten Redakteure, schon von weitem waren sie am unzeitgemäßen Typoskript zu erkennen. Meist fand sich dann doch jemand, der die Blätter an sich nahm und rasch in den PC donnerte. Man schätzte R. ob seiner klugen Texte, und schließlich druckte man ihn ja nicht jeden Tag. Die meisten Redakteure hatten ihre Hoffnung auf eine Innovation der Arbeitsgeräte R.’s aufgegeben. Traf man auf Kollegen anderer Zeitungen, die ebenfalls mit R. arbeiteten, kam bisweilen die Rede auf die sympathisch störende Rückständigkeit. Das ist umso kurioser, weil R. als Autor eine beinahe ungebrochene Modernisierungsfreudigkeit zum Ausdruck bringt. Beharrungsvermögen und sentimentales Festhalten am Bestehenden duldet er nicht. Ein nicht geringer Teil seiner Texte ist darauf aus, die individuellen Mythologien der Untätigkeit und Schwerfälligkeit zu entlarven. Eines Tages war es nach mehrjähriger hartnäckiger Weigerung dann so weit: R. mochte sich nicht länger gegen technische Neuerungen stellen. Tatsächlich war es allerdings seine Frau, die den Haushalt um einen Computer erweitert hatte. In den Zeitungsredaktionen treffen seither E-Mails mit Typoskripten von R. ein. Er hat sich anschließen und bald darauf einen Essay zur digitalen Bohème folgen lassen. Schwer vorstellbar, dass für derlei Lebenskunst der Überraschung ein serielles Coaching entwickelt werden könnte. So anleitungsresistent die Beispiele undogmatischer Verweigerungshaltungen zu sein scheinen: unaufhebbar sind die nicht.
    Das individuelle Navigieren zwischen Ordnung und Chaos ist ohnehin ambivalent. Während man keine Charakterpunkte für die gelungene Präsentation eines aufgeräumten Schreibtisches erwarten darf, verheißt eine gesittete Renitenz in der Auseinandersetzung mit Behörden wie dem Finanzamt oder bloß dem eigenen |216| Haushalt doch eine gewisse Aufmerksamkeit. Menschen, in deren Entwicklung ein wenig Wert auf Bildung gelegt worden ist, können, wenn die Rede darauf kommt, in solchen Momenten möglicherweise von Alexander Fleming erzählen. Der experimentierte mit Staphylokokken und Schimmelpilzen, versäumte es aber, vor einer längeren Abwesenheit, noch einmal aufzuräumen. Als er zurückkam, war aus den vergessenen Petrischalen eine Erfindung geworden, auf die die Welt heute nicht mehr verzichten mag: das Penicillin.
    Die Anekdote zeigt, wie eng Genie und die Neigung zu Nachlässigkeit und Unordnung beieinanderliegen können. Zumindest wird ein solcher Zusammenhang gern angenommen. Es gibt zahlreiche Erzählungen von Garagenunternehmern und Computer-Nerds, deren zukunftsweisendes Tun von seltsamen Schlaf- und Ernährungsweisen begleitet wird. Als Wohnen würde man ihre Art der Lebensführung nicht bezeichnen, und woraus sie möglicherweise wertvolle Impulse für das Verarbeiten von Datenströmen beziehen, ist für andere schlicht das Dahinvegetieren in Schmutz. Zumindest haben sie ein eigenartiges Verhältnis zu ihrer räumlichen Umgebung. Provisorische Lebensformen stehen nicht selten auf der Kippe zwischen Bewunderung und Stigma, und immer häufiger wächst ihnen beides zu. Die Lebensform scheint sich in einem Schwebezustand zwischen Absturz und Durchbruch zu befinden, der von vielen als attraktiver empfunden wird als schnöde Gleichmäßigkeit. Dass die globalisierte Ökonomie letzteres weitgehend von der Tagesordnung gestrichen hat, hat den Lebensformen des Herumtreibens, Schnorrens und Durchwurschtelns einiges von ihrer Exotik
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