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Mein schwacher Wille geschehe

Titel: Mein schwacher Wille geschehe
Autoren: Harry Nutt
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    Wenn der Kampf ums Überleben, aber auch um das adrette Aussehen, das alerte Dabeisein und das coole Drüberstehen fatale Erschöpfungszustände hervorruft, dann lohnt es, sich noch einmal der Rolle des Lasters zu vergewissern. Worin dessen Gefährlichkeit besteht, ist so eindeutig nicht. »Das Gute«, heißt es bei Wilhelm Busch, »dieser Satz steht fest / ist stets das Böse / das man lässt.« Gut und Böse folgen keiner festgelegten Definition, sondern bedingen einander. Als unterlassenes Böses jedenfalls ist das Gute kein Wert an sich. Zur Unterscheidung von gut und böse bedarf es demnach einer großen Portion Intuition und eines gesunden Maßes an Lebensklugheit. Ähnlich verhält es sich auch mit dem Laster. Es lässt sich nicht von vornherein ausschließen, weil es sich erst in der Maßlosigkeit, dem Überschreiten des Angemessenen, bildet. Die Paradoxien, mit denen gute Absichten konfrontiert sind, kennzeichnet Alain Ehrenberg als Überschreitungen ohne Verbote, Entscheidungen ohne Verzicht und Anomalitäten ohne Pathologie. Die angestrengten Kämpfe gegen das Laster und die Versuche, es auszumerzen, lassen das Übel als externes Element vielfach erst in Erscheinung treten. Der so genannte |208| Jojo-Effekt wird als Folge regelmäßiger wie vergeblicher Bemühungen um Gewichtskontrolle beschrieben, während das Phänomen des Elektrosmogs immer manifestere Krankheitsbilder hervorruft, ohne dass verlässliche Zusammenhänge zwischen Erkrankung und äußeren Einwirkungen hätten nachgewiesen werden können.
    Dabei geht es hier natürlich nicht darum, bestimmte Krankheitsbilder zu bestreiten und einer allzu regen Einbildungskraft zuzuschreiben. Es muss vielmehr hervorgehoben werden, dass eine integrative Vorstellung vom Laster verlorengegangen ist. Auf besonders skurrile Weise wird das beim so genannten Münchhausen-Syndrom deutlich, das als psychische Störung beschrieben werden kann, bei dem die Betroffenen körperliche Beschwerden erfinden oder selbst hervorrufen und meist sehr dramatisch präsentieren. Sie zwingen die Ärzte gezielt in eine Diagnostik, um diesen später mit Hilfe ausgeprägter medizinischer Kenntnisse Kunstfehler oder Fehlbehandlungen nachzuweisen. Das Münchhausen-Syndrom ist in sozialpsychologischer Lesart eine Reaktion auf medizinische Definitionsbedürfnisse. Sobald Münchhausen-Patienten mit psychischen Krankheitsbildern konfrontiert werden, entziehen sie sich der Behandlung. Der Grund dafür ist vermutlich weniger die Furcht vor Enttarnung als die Angst, auf ein weites Feld der Erklärungen verwiesen zu werden.
    Das Laster, soviel verrät bereits der altmodisch anmutende Begriff, ist von keiner Gemeinschaft trennscharf definiert worden. Ohne es klar zu formulieren, hat der gesunde Menschenverstand dennoch eine genaue Vorstellung davon, worin das Laster besteht und wo es zu finden ist. In der profanen Vorstellung erscheint das Laster als ungefähre Grenze zum Üblen, von dem man sich besser fernhält. Dadurch ist gewiss keine Kategorie gewonnen, an die man sich heute gut halten kann. Im Namen des Lasters wurden in anderen Zeitaltern radikale Ausgrenzungskämpfe betrieben. Das dunkle Kapitel der Hexenverfolgungen sowie das repressive |209| Regime der Inquisition hantierten mit fest verankerten Aversionen gegen das Laster. Dass diese heute umfangreichen Techniken der Selbstoptimierung gewichen sind, bedeutet nicht, dass den meisten Lastern noch immer auf eindimensionale, unaufgeklärte Weise begegnet wird.
    Es käme aber darauf an, jene Ressourcen zu heben, die es dem Lasterhaften ermöglichen, dabeizubleiben und mitzuhalten oder bisweilen sogar überlegen zu sein. Er ist es schließlich auch, der die Möglichkeit offen hält, sich treiben zu lassen ohne unterzugehen. Das Verhältnis von Tugenden und Lastern, schreibt Martin Seel, ist ohnehin notorisch verwickelt. Von Anfang an lauert hier die Ambivalenz. »Tugenden sind Laster«, so Martin Seel, »die ihr Schlimmstes nicht ausleben. Laster sind Tugenden, die ihr Bestes versäumen.« 47
    Die in diesem Buch beschriebenen Versuche, an die Grenze zu gehen und auf dem Weg dahin alles Störende auszumerzen, führen eher selten in Landschaften der Zufriedenheit. Die Anerkennung der Ambivalenzen von Laster und Willensschwäche ähnelt dem intuitiven Wissen eines Gärtners, der seine Bäume beschneidet: Was zunächst als widersinniger Akt der Zerstörung erscheint, kann bisweilen den Raum für präch­tige Triebe schaffen.

|210| Für eine
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