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Mein schwacher Wille geschehe

Titel: Mein schwacher Wille geschehe
Autoren: Harry Nutt
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kleine Schule des Nachlassens
    »On a slow train, time does not interfere.«
    Bob Dylan
    Wir grüßten uns schon von weitem. »Na, auch zu früh?« fragte der Kollege S., der eine Antwort gar nicht erst abwartete. »Ich gehe noch eine Runde um den Block.« Mit einer stummen Geste der Billigung folgte ich in der von ihm vorgegebenen Richtung. Wir hatten denselben Termin, waren aber beide mehr als zehn Minuten zu früh erschienen. »Das passiert mir immer«, gestand S., ohne dass er danach gefragt worden war. »Ich komme seit Jahren überall zu früh, und ich hasse mich dafür. Ich kann nichts dagegen tun.« Ich hatte nicht das Gefühl, mich erklären oder ein gesteigertes Interesse an dieser soziopathologischen Eigenart artikulieren zu müssen. Ich wusste, wovon er sprach. In mir hatte S. einen Leidensgenossen. Mit der Zeit entwickelt man seine Techniken, damit fertig zu werden. Zahllose Runden um den Block und blödsinniges Stieren auf irgendwelche Schaufensterauslagen, allein mit dem Ziel, Zeit verstreichen zu lassen, gehören seit langem zu meinen Alltagsbeschäftigungen. Zugegeben: Es gibt aufregendere Dinge im Leben. Ärgerlichere auch.
    Es ist nicht tragisch, sondern nur lästig, dass man sich anders verhält als man möchte. Nichts zu machen. Es ist, wenn man zu früh dran ist, vermutlich keine Frage falscher Einschätzungen über den zurückzulegenden Weg. Wie ferngesteuert steht man beim nächsten Mal garantiert wieder zu früh vor einer fremden Tür. Mit der Zeit nimmt man es einfach hin, fast immer der Erste zu sein und ein wenig fehl am Platz zu wirken, während die Gastgeber noch mit letzten Handgriffen befasst sind. Das Angebot, |211| bei irgendwelchen Vorbereitungen mitzutun, wird meist dankend ausgeschlagen, und man hat Floskeln für das Bemühen parat, nach Möglichkeit nicht zu stören: Kümmern Sie sich nicht um mich.
    Es ginge zu weit, die dumme Angewohnheit, immer zu früh dran zu sein, in die Liste der modernen Laster aufzunehmen. Manchmal kann es sogar hilfreich sein. Zwar nerve ich Frau und Freunde ständig damit, frühzeitig zu einer Reise aufzubrechen, aber in Sachen Pünktlichkeit kann man sich mir unfallfrei anvertrauen. Ich habe, das sage ich ohne Stolz und ob der meist uncool wirkenden Überpünktlichkeit ein bisschen beschämt, noch nie einen Zug oder Flug verpasst. Wer zu früh kommt, den bestraft kein Fahrplan. Wahrscheinlich ist die zwanghafte Zeitigkeit, der Kollege S. und ich verfallen sind, eine Art paradoxe Umkehrung der Unpünktlichkeit, die noch immer als Unsitte oder einfach nur als störend empfunden wird. Man kann es nicht abstellen, aber man lernt, damit klarzukommen. In Bezug auf die in diesem Buch angestellten Erkundungen zum Laster gibt die übertriebene Pünktlichkeit jedoch einen bemerkenswerten Hinweis: In zunehmend individualisierten Lebenslagen können selbst vermeintliche Tugenden als Laster empfunden werden. Es geht hier daher nicht darum, eine Agenda für tugendhaftes Leben in der Postmoderne zu erstellen oder die Verwerflichkeit neuer Laster zu deklinieren. Die in zahlreichen Lebensfragen aufgeworfene Ambivalenz lässt vielmehr nach Haltungen Ausschau halten, mit denen man den Herausforderungen gewachsen ist. Kann es nicht doch ein Einmaleins der gelungenen Lebensführung geben? Gibt es jenseits uncooler Tugendkataloge nicht wenigstens ein paar entlastende Rezepte?
    Die Chancen, irgendwo irgendwie dabei zu sein, sind ebenso gestiegen wie die Risiken, den Einsatz zu verpassen. Der Soziolo­ge Ulrich Bröckling spricht in diesem Zusammenhang von den Regimen der Subjektivierung. Der Zwang, man selbst und zugleich |212| anders zu sein, hat eine permanente Mobilisierung hervorgebracht. Die umfassende Ökonomisierung des Sozialen lässt den Einzelnen keine Wahl, »als fortwährend zu wählen, zwischen Alternativen freilich, die sie sich nicht ausgesucht haben: Sie sind dazu gezwungen, frei zu sein.« 48 Die Möglichkeiten, dieser totalitären Freiheit zu entkommen, sind eher gering. Wie man sich kleidet, was man sagt und wie man sich gibt, sind durchsetzt von widersprüchlichen kulturellen Codes.
    Es gibt eine anhaltende Sehnsucht nach Widerstand, Verweigerung und dem Ausbruch aus dem Bestehenden. Weniger pathetisch ausgedrückt: Man will manchmal einfach nur in Ruhe gelassen werden. Doch im dichten Netz des Kulturkapitalismus ist das ganz andere meist nur durch weitere Akte des Mittuns zu haben. Trotz allem fällt eine Konjunktur von Empfehlungen auf, die subversives
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