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Mein schwacher Wille geschehe

Titel: Mein schwacher Wille geschehe
Autoren: Harry Nutt
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Wer auf der Strecke bleibt, ist wenigstens dabei gewesen. Es ist schwer zu entscheiden, was man mehr bewundern soll: die Unerschrockenheit, sich mit Haut und Haar dem Bedürfnis nach ein paar Minuten Berühmtheit auszuliefern oder die Chuzpe, mit einem Minimum an Begabung und beachtlicher Pose am ganz großen Rad zu drehen. Wer nichts kann, versucht nach Möglichkeit, die Posen des Starsystems zu simulieren. Die Beispiele, die belegen, dass man damit durchkommen kann, haben in der jüngsten Vergangenheit nicht abgenommen. Sie machen |201| sich auch im Alltag breit, wo mit der Behauptung frechen Selbstbewusstseins Bildungsdefizite kaschiert werden, während durchaus entwickelte Fähigkeiten, situative Intelligenz und die Kunst sich durchzuschlagen, nur sehr begrenzt auf dem Arbeitsmarkt nachgefragt werden.
    Doch selbst wo Talent vorhanden ist, führt dies nicht geradlinig durch die Erfolgsspur. Die Geschichte des in einer britischen Talentshow entdeckten Opernsängers Paul Potts, die ein Fernsehspot der Deutschen Telekom als modernes Märchen der Kommunikationstechniken inszeniert, verlief alles andere als glamourös. Potts kam nicht, sang und siegte. Das Märchen vom singenden Aschenputtel entwickelte sich in der Realität sehr viel langsamer. Paul wuchs als Sohn eines Busfahrers und einer Supermarktkassiererin im südenglischen Bristol auf. Er war zu dick, schwitzte zu viel und zu schnell und war bald ein Außenseiterjunge, wohl auch wegen der in seiner Umgebung als absonderlich empfundenen Begeisterung für Opernmusik. Aber Paul hatte Mumm und ließ nicht locker. Mit elf Jahren wurde er Mitglied eines Kirchenchors in Bristol, bereits einige Jahre vor der Show
Britain’s got talent
gewann er in einer Show 8.000 Pfund mit seinem Gesang. Er nahm Gesangsstunden und durfte sogar Pavarotti vorsingen, doch den Mut und die Gelegenheit, eine Profikarriere einzuschlagen, besaß er nicht. Stattdessen jobbte er als Regalauffüller im Supermarkt. Den Durchbruch als Opernsänger mit Showauftritt, Plattenvertrag und Fernsehwerbung hat er wohl letztlich nicht einmal des Talentes wegen geschafft. Opernkritiker sind der Meinung, dass es Sänger dieser Qualität tatsächlich sehr viele gebe. Am Ende war es die Außenseitergeschichte, die Potts vor der Talentshowjury zum Ereignis machte. Die Formel des »Du kannst es schaffen« wirkt als Traum und Versprechen an sich selbst.
    Der Werbespot der Deutschen Telekom feiert Paul Potts als Helden eines großen kommunikativen Zusammenschlusses. Auf |202| den verschiedenen Ebenen der elektronischen Teilhabe beobachtet man seinen Mut zur Selbstbehauptung und wird Zeuge eines emphatischen Augenblicks. Weil er dabei geblieben ist, hat er es am Ende doch noch geschafft. Mit Paul Potts ist ein Akteur im typischen Erscheinungsbild eines Verlierers zum Sieger geworden. Er ist ein unwahrscheinlicher Popstar, der die zahlreichen Epigonen des Styles und der Coolness konterkariert. Der bloße Verweis darauf, dass er gekommen ist, um Oper zu singen, gereichte dem Format bereits zur Sensation. Paul Potts hatte nichts in Pose investiert, aber alles an Leidenschaft von seinem Gefühlskonto abgehoben. Er hat das Format des Talentwettbewerbs auf seinen einfachen Kern reduziert.
    Als Held wider Willen verkörpert Paul Potts nicht zuletzt ein Phänomen, dem zufolge Verlieren keine Option mehr ist. Die Einladung, immer und überall dabei zu sein, wird permanent ausgesprochen. Die Märkte der Selbstbehauptung werden von einer Inflation des Siegens und Siegenmüssens angetrieben, bei der jede Form der Abweichung auf ihre wenigstens kurzfristigen Aufmerksamkeitsgewinne überprüft wird. Das Verlieren als notwendige soziale Erfahrung, das Leiden an der fehlenden Akzeptanz, das quälende Selbsteingeständnis, eine mangelhafte Leistung abgeliefert zu haben und das lähmende Gefühl der Unterlegenheit werden in solch einer Anordnung ausgeblendet. Die Hypertrophie des Gewinnens hat das Scheitern als wichtigen Bestandteil sozialer Kompetenz preisgegeben. Natürlich gibt es noch Niederlagen, verfehlten Erfolg, aber man ist angehalten, dies als Schlappe zu betrachten, die man am besten schnell und leicht wegsteckt. Die Leerstelle des Verlierens hat unterdessen der Loser eingenommen, den man mal zynisch, mal ironisch denunzieren kann. Der personifizierte Loser macht es den anderen leichter, sich als Sieger fühlen zu können. In einer Art negativem Heroismus wird die Rolle schließlich auch angenommen. »I’m a loser baby,
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