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Mein schwacher Wille geschehe

Titel: Mein schwacher Wille geschehe
Autoren: Harry Nutt
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Baudrillard bereits in den Achtzigerjahren darauf hingewiesen, dass der sportliche Wettbewerb gegen andere einer angestrengten Selbstbezwingung gewichen ist. Keiner will mehr gewinnen, alle wollen es nur noch irgendwie geschafft haben. »I did it«, rufen sich verausgabte Läufer in der Masse zu, von denen jeder für sich stolz über das absolvierte Pensum ist. »I did it« heißt: Man hat etwas zu Ende gebracht. »Dieses Schlagwort einer neuen Form werbewirksamer Aktivität, autistischer Leistung, reiner und leerer Form und Selbstherausforderung«, schreibt Baudrillard, »ist an die Stelle der prometheischen Ekstase von Wettkampf, Anstrengung und Erfolg getreten. Der Marathonlauf New Yorks ist zu einer Art internationalem Symbol für diese fetischistische Leistung, dieses Delirium eines leeren Sieges und diese Begeisterung über eine folgenlose Selbstgefälligkeit geworden.« 43
    Unter dem Gebot, dauernd alert zu sein, hat sich nicht zuletzt auch die Wahrnehmung des Lasters verändert. Dem geheimen Reich der Wollust auf der dunklen Seite der Straße stehen mit diversen Therapieangeboten gut ausgeleuchtete Entsorgungsinstitute gegenüber. Es gibt immer etwas zu beseitigen, und es wird nach den Regeln mentaler Mülltrennung abtransportiert. »I did it« heißt in diesem Fall: Ich habe etwas weggeschafft. Während es früher als eine Art Schicksal hingenommen wurde, zur Fettleibigkeit zu neigen, der Nikotinsucht zu frönen, sexuellen Begierden nachzujagen oder wenigstens von Zeit zu Zeit nicht widerstehen zu können, sind es nunmehr die Lockrufe der Selbsthilfegruppen, derer man sich nicht erwehren kann. So leicht es einem gemacht wird, sich zu diesem oder jenem dunklen Kapitel aus seinem Leben zu bekennen, so unmöglich ist es doch auch geworden, sich der permanenten Mobilmachung der Tugendarmeen zu entziehen. Das katholische Prinzip der Beichte, also Entlastung durch Schuldanerkennung, hilft bei der Tilgung der Sünden nicht weiter. |195| Gnadenlos wird man auf das Verursacherprinzip festgelegt. Kein Bekenntnis ohne die Erwartung auf Selbstkasteiung. Wer sein Damaskus-Erlebnis noch nicht hatte, den erreicht aus allen Lautsprechern die Botschaft des Chors: Du kannst es schaffen. Das unausgesprochene Gebot dieses Chors lautet allerdings: Du musst es auch versuchen.
    Dass dieses Motto keineswegs nur nach der Melodie perfider Konsumstrategien gepfiffen wird, zeigt ein kleiner Ausflug in die Wirtschaftsgeschichte. Nachdem die große Depression insbesondere die Vereinigten Staaten nicht verschont hatte, bestand die zentrale Absicht von Präsident Franklin D. Roosevelts New Deal in der Mobilisierung individueller Ressourcen. Zwar kam es primär darauf an, mit staatlichen Investitions- und Beschäftigungsprogrammen, beispielsweise für den Bau von Staudämmen, den wirtschaftlichen Kreislauf wieder auf Touren zu bringen. Zur ökonomischen Volksgesundung war es jedoch ebenso wichtig, die schlummernden individuellen Kräfte freizulegen. Es ging um die Bergung der stillen Reserven Einzelner für das Ganze. Nichts ist zu klein und unbedeutend, jeder Beitrag zählt bei der Vollversammlung der Tugendhaften, die wieder auf die Füße kommen wollten.
    Als Vergewisserung der eigenen Antriebskräfte lässt sich auch die Geschichte des Galopprennpferdes Seabuiscuit lesen, die Laura Hildebrand als amerikanische Sozialgeschichte vor dem Hintergrund der großen Depression erzählt. Die Hoffnungen der kleinen Leute, die Arbeit und ihre Vermögen verloren hatten, knüpften sich an den Mut eines krummbeinigen Rennpferds, das über Rennen in der Provinz die großen Rennbahnen und die Herzen sowie die Wettleidenschaft der Menschen eroberte. Schwere Verletzungen und tragische Trainingsunfälle konnten den geschundenen Gaul und diejenigen, die an ihn glaubten, nicht zurückwerfen. Im Gegenteil: Warum ein ganzes Leben wegwerfen, nur weil es beschädigt ist, lautet insgeheim das Motto dieses |196| später mit Jeff Bridges und Toby McGuire verfilmten Sozialmärchens. Trotz der naheliegenden Versuchung, erschöpft aufzugeben, wurde die Selbstaufforderung, es zu schaffen, in dieser Geschichte vor dem Hintergrund einer wachsenden industriellen Mobilität zu einer beachtlichen ökonomischen Energie. Die Beschädigungen, von denen hier die Rede ist, waren äußerer Natur. Die Weltwirtschaftskrise hatte den Menschen, deren traditionelle Bindungen an Familie, Religion und Moral eng geknüpft waren, zumindest vorübergehend den Boden unter den Füßen
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