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Mein schwacher Wille geschehe

Titel: Mein schwacher Wille geschehe
Autoren: Harry Nutt
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den trivialen Wettbewerbssimulationen noch der verlässlichen und haltbaren Gemeinschaftsstrukturen. Die stabilisierende Funktion der Familie feiert ein erstaunliches Comeback, und nicht selten sind es Patchworkfamilien, die den bis zur Selbstaufgabe um Erfolg kämpfenden Akteur erst komplett erscheinen lassen. Im Ernstfall stellt die Familie wohl nur noch bedingt ein verlässliches Netz und einen Hort der Geborgenheit dar. In der Medienerzählung aber fungiert sie noch immer als stabiler Schutz. Die individuelle Haltlosigkeit und deren Abwehr jedenfalls ist unterschwellig das große Thema ansonsten sehr verschie­dener Fernsehformate.
    In den Castingshows geht es nur sehr bedingt um die Sichtung brauchbarer Fähigkeiten und um die Rekrutierung neuer Talente. Es wird vielmehr ein Proberaum für die Erzeugung psychischer Energien bereitgestellt, auf die im Alltag nicht mehr verzichtet werden kann. Schwächen, Ängste und Unsicherheiten werden geradezu |199| herausgekitzelt, weil sie ungeschützt die Konfrontation mit dem Unerwarteten sichtbar machen. Die Formate inszenieren sich als Peepshows der Authentizität, in deren weiterem Verlauf es auf die Überwindung der emotionalen Äußerungen ankommt. Es geht nur scheinbar um Leistung, die Präsentation von Talent und Erlerntem, all das, was bislang als Garant dafür angesehen wurde, dass man gut durchs Leben kommt. Stattdessen werden Performance, Stil und das Gefühl für das richtige Timing aufgewertet. Noch im Moment des Versagens ist es von immenser Bedeutung, einigermaßen gut dabei auszusehen. Schlagfertigkeit ist das wertvollste Attribut im permanenten Ego-Mikado. Das unterscheidet die Kandidaten nicht von den Punktrichtern, die ebenfalls unter den harten Gesichtspunkten der Selbstvermarktung beobachtet werden. Wenn unterdessen die Kandi­daten scheitern oder bloß den Text vergessen, erklären sie ihr Versagen wie Fußballprofis damit, dass sie ihr Können im entscheidenden Moment nicht abrufen konnten. Sie haben gelernt, keinen Zweifel daran aufkommen zu lassen, dass künstlerisches Vermögen und Talent ausreichend vorhanden sind. Sorgen bereitet lediglich, dass es nicht jederzeit verfügbar ist. In solchen Selbstbildern haben Zweifel und Willensschwäche sowie die Neigung, sich hängen zu lassen, keinen Platz. Der Dilettantismus, das Unfertige und Unentschiedene werden nach Kräften aufgehübscht, um die allmähliche Verwandlung der Schwächen in Stärken besser hervorbringen zu können. In der Anfangsphase eines Castings treten Trägheit und die Angst vorm Versagen als eine Art Rohzustand zwar offen zutage. Noch sind die Zweifel überdeutlich, die den notwendigen Ehrgeiz allzu schnell wieder in sich zusammenfallen lassen. Gewiss werden auch die Massen derer gezeigt, die scheitern. Die meisten von ihnen haben jedoch eine clowneske Form des Auftretens gewählt, die ihren Eintritt in den Wettkampf als eine ironische Form des Dabeiseins (»Ich hab die Haare schön«) erscheinen lassen.
    |200| An den Kandidaten der engeren Wahl führt man hingegen eine wundersame Verwandlung vor. Wer später einmal perfekt frisiert und gestylt auf der Bühne steht, vermag in der Castingphase sein pickliges Gesicht und seine unsichere Mimik nicht zu verbergen. Alles ist angerichtet, um adoleszente Jungs und junge Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs agieren zu lassen. Später sollen sie dann wie nach einem Bad in Drachenblut als unverletzbare Wesen daraus hervorgehen. So gesehen geht es nicht um die zynische Bloßstellung wehrloser junger Menschen, wie Medienethiker dem alternden Beau und Musikproduzenten Dieter Bohlen unterstellen, wenn dieser die Kandidaten einer Kanonade kränkender Sprüche aussetzt. Dessen dreiste Behauptung von Professionalität gehört bereits zum Trainingsprogramm für den Erwerb mentaler Wehrhaftigkeit. In Castingshows wie
Deutschland sucht den Superstar
ist ein Zustand permanenter Bewerbung zu beobachten, in der die Haltung des »Du kannst es schaffen« zugleich beschworen und karikiert wird. Die Einstellung, mit der sich junge Leute für eine Castingshow bewerben, unterscheidet sich nicht sonderlich von derjenigen, mit der man auf einer Beautyfarm vorstellig wird oder sich im Fitnesscenter mit Dehnungsübungen aufwärmt. Hier wie dort sieht man Individuen im permanenten Wettlauf der Selbstoptimierung. Die Erzeugung harter Konkurrenz wird dabei als Geschichte einer weitgehenden Inklusion erzählt. Nur wer dabei war, kann auch auf der Strecke bleiben.
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