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Mein schwacher Wille geschehe

Titel: Mein schwacher Wille geschehe
Autoren: Harry Nutt
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Wer indes tugendhaft lebt, steht im Verdacht, nicht allzu viel aus seinen Möglichkeiten zu machen. Also übt man sich lieber in Techniken, mit dem Persönlichkeitsmix aus Talenten und Charakterschwächen voran- oder wenigstens klarzukommen. Die meisten Macken hat man ganz gut unter Kontrolle. Wenn man von jemandem sagt, er oder sie sei selbstbewusst, dann meint man das forsche, zielorientierte Auftreten der Person, deren Einschätzungsvermögen der eigenen Fähigkeiten und Kräfte und ihre zweifelsfreie Zuversicht. An solchen Leuten richtet man sich auf. Zum Selbstbewusstsein gehört es allerdings auch, seine eher kläglichen Seiten, schlechte Angewohnheiten und Marotten zu verbergen, so gut es geht. Sie sind da, jeder hat sie und je nach Tagesform sind sie kaum oder besonders deutlich sichtbar. Die misslingenden Vertuschungsversuche machen liebenswert oder einfach nur lächerlich. Wenn wir sie Laster nennen, dann mit ironischem Unterton und in Anspielung auf deren lange theologische Geschichte.
    Zum Laster bedarf es immer eines Konflikts. Bereits im Augenblick des Handelns, und oft auch des Nichthandelns, stehen die Einwände Schlange. Es gibt kein Laster ohne Moralisierung. Stärker |10| noch als das, was die anderen sagen, zählt dabei, was die inneren Stimmen flüstern. Wenn es einen inneren Schweinehund gibt, dann nur weil er viele innere Schutzheilige hat. Die Unfähigkeit, all dem angemessen zu begegnen, hört auf den Namen Willensschwäche. Man weist sie von sich, so gut man kann. Hat man wieder mal etwas verpasst oder vermasselt, war es nur schlechte Form. Man weiß ja, wie es geht. Beim nächsten Mal geben wir 100 Prozent, wie Fußballprofis fast in jedem zweiten Satz betonen.
    Das Laster tritt immer in doppelter Gestalt auf. Was heute eines sein kann, macht man zuallererst mit sich selbst aus. Zu viel geraucht, zu viel getrunken, den Termin im Fitnessstudio wieder verstreichen lassen. Das Laster kommt uns bei den permanenten Bewegungen der Sinnstiftung in die Quere. Der Einfluss des Unbewussten ist nicht zu unterschätzen. Für derlei Dinge erst einmal sensibilisiert, fällt auf, wie intensiv Laster überall und von fast allen bekämpft werden. Die Exerzitien der Selbstdisziplin sind vielfältig. Eine erfindungsreiche Dienstleistungs- und Freizeitindustrie ist dabei, die Angebotspalette zur Selbstoptimierung ständig zu erweitern und zu verfeinern. Einfache Trainingshose war gestern. Ein entsprechendes Equipment für körperliche Ertüchtigung kostet Hunderte und um einen Diätplan richtig zu verstehen, bedarf es mindestens des Studiums einiger Semester Ernährungswissenschaften. Überall wird reduziert, minimiert und auf Durchschnittswerte geachtet. Das Ich steht dabei immer im Mittelpunkt, aber für den Body-Mass-Index zählen nur messbare Fakten: Größe, Alter, Gewicht, mit irgendwas multipliziert und dann geteilt. Das Ergebnis macht zu nicht geringen Anteilen Individualität in ihrer aktuellen Erscheinungsform aus. Der Feind ist mit all seinen Verführungskräften nicht hinter mir her, er schaut muffelnd zurück aus meinem Spiegel. Er spricht nicht, aber sein Gesicht scheint hämische Kommentare abzugeben: zu fett, zu ungepflegt, zu hässlich. Er nimmt das Wort Laster nicht jedes Mal in den Mund, aber hinter seinen Grimassen scheint |11| eine klare Vorstellung davon auf, wie alles sein sollte. Er weiß, wie es geht, aber du hast es wieder mal nicht hingekriegt und außerdem wissentlich bei der Mülltrennung geschlampt. Das politisch-ökologische Bewusstsein rät zu Lupo, aber die Leidenschaft fährt mit dir Porsche. Wir erleiden Willensschwäche ja nicht nur, wir gehen mit ihr auch auf Partys. Und wenn wir gut drauf sind, erscheinen wir damit ganz liebenswert.

    Es geht in diesem Buch zunächst um eine Phänomenologie des Lasters und der Willensschwäche. Was tun wir, wenn wir lästige Pflichten wie die Erstellung und Abgabe der Steuererklärung immer weiter aufschieben? Warum fangen wir nicht an, die einfachen Dinge wie den Abwasch zu erledigen, bevor er als klebriges und stinkendes Monstrum in der Küche auf uns wartet? Ist es denn wirklich so schwer, das Rauchen zu lassen und den Alkoholkonsum zu reduzieren, obwohl man es sich in einer besinnlichen Minute und mit Blick auf die Leberwerte als notwendige und richtige Entscheidung auferlegt hat? Es gibt sichtbare Laster und verborgene sowie mehr oder weniger akzeptierte. Die Grade der Akzeptanz haben sich in der Kulturgeschichte wiederholt gewandelt.
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