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Mein schwacher Wille geschehe

Titel: Mein schwacher Wille geschehe
Autoren: Harry Nutt
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Persönlichkeitsproblem stoße.« Das Nichteinhalten von Vorsätzen, sagt Ursula März, habe bei ihr fast immer mit einem Zuviel an Kontrolle zutun. Ein Teil des Bewusstseins denke bei jeder Zigarette über das Rauchen nach, dessen gesundheitliche Folgen etc. Dieses Nachdenken führe paradoxerweise dazu, dass sie noch mehr rauche. In ihrem Fall sei das möglicherweise eine Reaktion auf ihre Erziehung.
    Diese kleinen Marotten bilden ein Theater der Widersprüche, in das man sich permanent selbst einlädt. Für die großen Laster, Drogen etc, sagt Ursula März, sei sie immer zu ängstlich gewesen. Ihre Laster, glaubt sie, seien uncool. Damit bewege man sich eher im Spießermilieu als im Bohèmienmilieu. Ein weiteres Laster sei |19| Quasseln. »Ich kann in ein unglaubliches Dauerquasseln hineingeraten. Eine hysterische Herumquasselei, über die ich mich später auf dem Nachhauseweg ärgere: ›Wie konntest Du nur?!‹ Es geht dabei nicht nur um den Unsinn, den ich geredet habe, sondern auch um die Aufgeregtheit, in der es geschehen ist. Es ist eine Quasselmanie, in der ich zwei Stunden am Stück Quatschen könnte. Nicht immer kommt es dazu, aber ein innerer Druck ist da.«
    Und es gibt das Gefühl, dass nicht alle Aspekte der Persönlichkeit gleichberechtigt zum Ausdruck kommen. Ursula März ist ein vernünftiger Mensch. Tüchtig, altruistisch und »caring«, wie sie sagt. Sie denke für andere und sei nicht egoman. Aber es gebe sehr wohl einen Teil, der ekstasefähig ist. »Ich meine das nicht erotisch oder sexuell. Ich meine es im Sinne von: Ich bin zu Wildheit fähig. Dieser Teil hat gesellschaftlich relativ wenig Platz. Es gibt kaum gesellschaftliche Räume, in denen man sich richtig gehenlassen kann. Ich gehe bisweilen in Discos und tanze, aber das ist es nicht. Deshalb finde ich Massenereignisse wie Fußballweltmeisterschaften oder die Wahl Obamas, bei der man einfach nur jubelt, unwahrscheinlich plausibel. Dabei geht es gar nicht um die Zustimmung zur Sache. Es gibt dem Bedürfnis nach Ekstase einen Raum. Wir leben jedoch in einer Gesellschaft, in der das nicht regelmäßig vorgesehen ist. Wir fallen nun einmal nicht alle einmal im Monat in Trance. Vielleicht geht es bei meinem Bedürfnis nach hemmungslosem Quasseln um so etwas wie Ekstase.«
    Es gibt, vermutet Ursula März, eine anthropologische Komponente. Der Mensch könne nicht nur nach Dingen leben, die er sich vorgenommen hat. Der andere Teil müsse sich irgendwie äußern können. Wo er sich dann äußere, werde individuell bestimmt. Aber: »Der Mensch ist nicht dafür geschaffen, aus Dingen zu bestehen, die er gewollt hat. Wir kommen nicht als Kantianer auf die Welt und gehen auch nicht so ins Grab. Wir sind doch eher Nietzscheaner.«
    |20| Wenn in Gesprächen die Rede aufs Laster kommt, fällt bald die Frage, ob damit das Glas Wein am Abend gemeint sei. Fast jeder ist schon einmal versucht gewesen, seine Trinkgewohnheiten in Frage zu stellen. Die Krankenkassen werden nicht müde, entsprechende Wegweiser aufzustellen, was wiederum von Weinkennern in Frage gestellt wird, die »täglich Wein« propagieren. Sein Glas Wein, sagt der Naturwissenschaftler und Sachbuchautor Stefan Klein, empfinde er nicht als Laster. Der Begriff behagt ihm nicht. Es müsse eine Definition her. Probieren wir es zunächst mit der augustinischen Frage: Warum, fragte dieser, gibt sich der Geist Befehle, die er dann nicht befolgt? Als Naturwissenschaftler, sagt Klein, möchte er so nicht fragen: »Ich denke, dass es den Geist als Instanz gar nicht gibt. Was wir als Person empfinden, ist wie einem Baukasten aus verschiedenen und widerstreitenden Anlagen und Regungen entnommen.« Die Frage, die sich in Bezug auf Willensschwäche stelle, sei allenfalls, welche der vielen widerstreitenden Regungen sich als die stärkere erweise. Klein geht von den Funktionsweisen des Gehirns aus: Bei etwas so Elementarem wie der Nahrungsaufnahme würden so alte Gehirnregionen angesprochen, dass der bewusste Verstand die Vorgänge nur unzureichend erfasse. »Das Gehirn ist zunächst einmal dazu da, den Organismus am Laufen zu halten.« Verstand, bewusstes Denken, gute Vorsätze usw. seien allenfalls das Sahnehäubchen auf der Torte, eine späte Station einer sehr langen Reise. Das werde besonders deutlich, wenn mit Substanzen wie Alkohol oder Nikotin in die elementaren Prozesse eingegriffen werde. »Dann muss man mit starken Reaktionen rechnen.«
    Suchtmittel oder Drogen wirken unmittelbar auf
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