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Mein schwacher Wille geschehe

Titel: Mein schwacher Wille geschehe
Autoren: Harry Nutt
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why don’t you kill me« singt Beck Hansen, und Jugendliche |203| beschimpfen sich gegenseitig als Opfer, um die Erfahrung ihrer Ungeschütztheit auf die Spitze zu treiben. Das Aushalten einer Durststrecke und die Geduld, aus Fehlern zu lernen, gehören nicht zum Coaching für Gewinnertypen. Tatsächlich hatte es im Herbst 2008 den Anschein, als seien die Akteure der internationalen Finanzwelt auf die Option eines Scheiterns des gesamten Systems nicht vorbereitet gewesen. Darauf trainiert, die Erfolgserwartungen zu berechnen, gab es für diese Form des Versagens kein Repertoire der Schuldverarbeitung. Das Geld war weg, aber es schien niemanden zu geben, der Verantwortung für den Verlust übernehmen wollte und konnte.
    Stellt man das Okular sozialer Beobachtung etwas schärfer, tritt der Typus des sozialen Verlierers jedoch wieder in den Blick. Trotz der festen Umklammerung des Dazugehörens sind die Kohorten der Ausgeschlossenen nicht zu übersehen. Im Grunde weiß man genau, wo sie zu finden sind und wie sie aussehen. »Die Jugendlichen hängen herum«, schreibt der Berliner Soziologe Heinz Bude, »und warten darauf, dass etwas passiert, die Männer mittleren Alters haben sich ins Innere der Häuserblocks zurückgezogen, und die Frauen mit den kleinen Kindern sehen mit Mitte zwanzig schon so aus, als hätten sie vom Leben nichts mehr zu erwarten. Es herrscht eine Atmosphäre abgestumpfter Gleichförmigkeit. Hier leben Menschen, die sich daran gewöhnt haben, wenig zu besitzen, wenig zu tun und wenig zu erwarten.« 44
    In seinem Essay konstatiert Bude eine völlig neue Form des sozialen Ausschlusses, in der es nicht mehr um arm und reich sowie oben und unten geht. Es geht stattdessen um drinnen und draußen, und es gibt keine Stufenleiter, über die man sich mit ein bisschen Anstrengung hineinhangeln könnte. »Für die Exkludierten gilt der meritokratische Grundsatz Leistung gegen Teilhabe nicht mehr. Was sie können, braucht keiner, was sie denken, schätzt keiner und was sie fühlen, kümmert keinen. Sie stellen |204| daher eine Provokation für jede anständige Gesellschaft dar.« Gerade diese Provokation ist es ja, die in den Castingshows in leicht verdaulicher Form auf die Bühne gebracht wird. Bildungsferne wird nicht als sozialpolitisches Ärgernis, sondern als unterhaltsame Kuriosität wahrgenommen. Weil man sowieso nichts zu tun hat, kann man sich da auch bewerben. Nicht wenige scheitern allerdings an den auch hier geforderten Formalitäten. So sehr man sich zum Geschehen auf Abstand halten mag, können die von Bude beschriebenen Ausschlussphänomene nicht mehr marginalisiert werden. Längst können sie jeden treffen. Es gibt keine einfachen Prognosen mehr darüber, welche Wege und Abwege in die Exklusion führen. »Die Überqualifikation eines promovierten Mathematikers, dem nach Ablauf von zwölf Jahren wissenschaftlicher Tätigkeit von der Universität wegen einschlägiger Laufbahn-regelungen eine Vertragsverlängerung verweigert werden muss, kann genauso dazugehören wie die Geringqualifikation eines Mittvierzigers mit nicht nachweisbaren Schulabschlüssen, der zwanzig Jahre als mithelfender Familienangehöriger in dem jetzt geschlossenen Schnellrestaurant seines Onkels beschäftigt war. Der erste gilt wegen Kontaktscheue, der zweite wegen Distanzlosigkeit als schwer vermittelbar. Weiterqualifikation und Umschulung werden als sinnlos erachtet.«
    Vor diesem Hintergrund entpuppen sich auch die krampfhaften Versuche, ganz vorn zu sein oder wenigstens Anschluss zu halten, als nackte Angst davor, abgehängt zu werden. Das ehrgeizige Strampeln um die Idealfigur und das sorgsame Lining des Lipgloss für besseres Aussehen verliert jedoch schnell den Charme zotiger Marotten. Das Schweißband ist Accessoire eines funktionalen Equipments avancierter Abgrenzungskämpfe, die auch verloren werden können. Kosmetik und Wellness überspielen die unvermeidliche Einsicht, dem Alter nur begrenzt Einhalt zu gebieten. Im täglichen Training wird man auch das Zwacken und Zwicken des Körpers gewahr. Wie lange, fragt Heinz Bude, lässt |205| sich die Überzeugung von der eigenen Wendigkeit, Schnelligkeit und Geschmeidigkeit aufrechterhalten?:
    »Wer sich durch Körpershaping, Anti-Aging und Alltagsdoping fit und flexibel hält, fühlt sich in Augenblicken der Ermüdung und Ermattung schnell vom Gespenst der Überflüssigkeit bedroht. Was zählt man noch, wenn man nicht mehr mithalten kann? Es scheint sich gerade bei den
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