Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Titel: Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)
Autoren: Peter Stamm
Vom Netzwerk:
Mehrmals halb erwachen und wieder wegdämmern, auftauchen aus dem Schlaf und zurücksinken in die Schwerelosigkeit. Gillian liegt im Wasser, es leuchtet blau. Ihr Körper sieht gelblich darin aus, aber sobald er auftaucht, verschwindet er in der Dunkelheit. Alles Licht kommt aus dem warmen Wasser, das über ihren Bauch, über ihre Brüste schwappt. Es ist ölig, perlt von der Haut ab. Sie scheint sich in einem geschlossenen Raum zu befinden, es ist still, trotzdem spürt sie, dass sie nicht allein ist. Sie wird geliebt, die Liebe füllt sie aus.
    Die Zeit macht Sprünge. Als sie ein Rauschen hört, öffnet sie die Augen. Jetzt ist sie allein. An der Wand sind Reihen von Lichtpunkten, die vorher nicht da waren. Sie schließt die Augen, das Rauschen entfernt sich und verstummt.
    Später bewegt sich eine weiße Gestalt an ihrer Seite, die Hände besänftigend ausgestreckt, und verschwindet wieder. Gillian spürt eine leichte Übelkeit, die beinahe wohltuend ist, eine köstliche Schwäche, die sie hinunterzieht, zurück in den Schlaf. Dann ist es hell, alles ist blendend weiß. Auf dem Nachttisch steht ein Tablett mit Frühstück. Es riecht nach Kaffee und Blumen. Ganz langsam erwacht ihr Körper, sie spürt die Beine und den Arm, der die Decke wegschiebt, die Kühle auf der nackten Haut. Sie hat kaum Schmerzen, nur das Gefühl, sich zu sammeln und wieder aufzulösen, ein langsames Pulsieren. Neben ihr liegt eine Hand, die auf einen Knopf drückt und zu ihrer Hand wird. Etwas hebt ihren Körper hoch, sie hört ein leises Surren. Das Atmen fällt ihr ungewöhnlich leicht, so als würde die Luft ungebremst in ihren Körper strömen und zugleich entweichen. Ein Finger drückt auf den grünen Knopf, auf dem eine kleine Glocke abgebildet ist. Zeit vergeht.
    Die weiße Frau betritt den Raum, kommt zum Bett und nimmt, ohne zu fragen, den Nachttopf. Und wieder das Gefühl, sich aufzulösen, die Wärme, die aus dem Körper strömt.
    Sind Sie fertig?
    Gillian sagt etwas, das wie ein kurzes Stöhnen klingt. Es kommt ihr vor, als bewohnte sie nur noch den kleinsten Teil dieses Körpers, der ihr sehr groß erscheint, ein leeres Gebäude voller seltsamer Geräusche, voller unkontrollierter Bewegung. Wenn man ein Zimmer betritt, scheint es gerade jemand verlassen zu haben. Von irgendwoher sind Gespräche zu hören, Gelächter. Gillian eilt eine Treppe hinunter, aber sie kommt wieder zu spät. Auf dem Tisch steht das schmutzige Geschirr, stehen leere Schüsseln. Die Servietten liegen zusammengeknüllt auf dem weißen Tischtuch, zwischen Weinflecken und Krümeln.

    Es regnet. Gillian fragt sich, wie lange sie schon hier liegt, aber sie erwartet keine Antwort. Ihre Kraft reicht kaum für die Frage. Sie sitzt vornübergebeugt im Bett, ohne sich zu erinnern, wie sie in diese Position gekommen ist. Plötzlich spürt sie etwas Kaltes, erst ist es nur ein kleiner Punkt, dann wird ein Rücken daraus, Strich um Strich wird er in die Leere gemalt, bis sie ihn ganz spürt. Es riecht nach Alkohol. Das Radio läuft, Gillian hört das Zeitzeichen, eine Stimme, die sehr schnell spricht, sie versteht nur einzelne Worte, die keinen Sinn ergeben. Der UNO-Sonderbeauftragte, die Marssonde Beagle 2, ein Halbfinalsieg bei den Australian Open, ein Tiefdruckgebiet mit Zentrum über der Biskaya. Vereinzelte Regenschauer. Sie spricht in Gedanken nach: der UNO-Sonderbeauftragte, die Marssonde, das Tiefdruckgebiet, und versucht, den Zusammenhang zu verstehen. Das Gefühl von Kälte vergeht und der Rücken verschwindet aus ihrem Bewusstsein, das Nachthemd senkt sich wie ein Vorhang. Atemlos wartet Gillian, bis er sich wieder hebt. Jemand gibt ihr einen kleinen Schubs, und sie schaut sich, während sie auf die Bühne rennt, kurz um, als wäre sie gestolpert. Sie wendet sich dem Publikum zu, schaut in die Scheinwerfer und verbeugt sich tief. Drei, vier Vorhänge, dann ebbt der Applaus ab, das kurze Glück ist vorüber. Gillian weiß, dass sie nicht gut gewesen ist, der Regisseur wird es ihr sagen, einmal mehr. Du spielst nur, wird er sagen. Du musst deine Rolle leben.
    Sie können sich zurücklehnen. Soll ich das Radio laufen lassen?
    Gillian versucht, sich zu konzentrieren. Alles hängt von ihrer Antwort ab. Sie will aufwachen, aufstehen, aber es geht nicht. Sie kann ihre Beine nicht bewegen, es ist, als hätte sie keine Beine. Das Radio verstummt, die Schwester geht zum Fenster und schließt die Vorhänge. Gillian erinnert sich an Regen. Das Tiefdruckgebiet. Es
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher