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Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Titel: Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)
Autoren: Peter Stamm
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Gästen, Wochenendausflüge in Wellness-Hotels, Übernachtungen in speziell hergerichteten Zimmern für verliebte Paare.
    Dann bekam sie den Job als Moderatorin und verdiente plötzlich so viel wie Matthias. Vor allem aber schien er darunter zu leiden, dass sie bei Anlässen, über die sie beide berichteten, die wichtigere Rolle spielte. Erst jetzt merkte Gillian, dass er zwar jeden kannte, aber niemand ihn wirklich ernst nahm. Wenn sie Interviews führte, sah sie oft aus den Augenwinkeln, dass er in der Nähe herumstand. Kaum war die Kamera ausgeschaltet, kam er dazu und mischte sich ins Gespräch ein. Dabei legte er demonstrativ seinen Arm um sie oder küsste sie.
    Ist er wirklich beleidigt?, fragte Dagmar, als sie zurückkam.
    Wir hatten einen Streit heute Nachmittag, sagte Gillian. Sie stand auf und ging hinaus in den Garten. Matthias stand rauchend auf der Terrasse. Was ist los? Ihre Stimme klang härter, als sie beabsichtigt hatte. Komm jetzt rein, es ist eiskalt.
    Er behauptete, sie habe mit Dagmar geflirtet. Hat sie die Fotos gemacht?, fragte er.
    Mir reicht es, sagte Gillian.
    Wir gehen, sagte Matthias, als hätte er sie nicht gehört.
    Ich kann nicht mehr fahren, sagte Gillian und zeichnete mit dem Zeigefinger eine Spirale über ihrem Kopf. Wir können ja bei Dagmar übernachten.
    Das würde dir so passen, sagte er.
    Sie ließ ihn stehen und ging wieder ins Haus. Jemand sagte etwas zu ihr, aber sie gab keine Antwort und schenkte sich ein Glas Grappa ein, und nachdem sie es geleert hatte, gleich noch eins. Übernachtet ihr hier?, fragte Dagmar. Jetzt müssen wir wohl, sagte sie und lachte.
    Ja, sagte Gillian, wir haben uns gestritten. Aber das ist jetzt nicht wichtig.
    Der Vater stand auf. Nimm ein paar von den Blumensträußen mit, sagte sie. Ich habe keine Ahnung, wer die alle geschickt hat. Soll ich dir die Karten vorlesen?, fragte er. Sie schüttelte den Kopf. Ich komme mir vor, als wäre ich hier aufgebahrt.

    Am Nachmittag rief die Mutter an und bedankte sich für die Blumen. Sie fragte, wann sie Gillian besuchen könne.
    Am liebsten gar nicht.
    Jedes intakte Gesicht erinnerte Gillian an die Zerstörung ihres eigenen. Und es war ihr, als müsste sie das Entsetzen der anderen tragen, als müsste sie sie mit ihrer Tapferkeit trösten. Nur die Anwesenheit der Ärzte und Schwestern ertrug sie.
    Die Mutter insistierte nicht. Sie sagte, sie habe nach der Wohnung geschaut, den Kühlschrank geleert, die schmutzige Wäsche gewaschen.
    Vielen Dank, sagte Gillian, das wäre nicht nötig gewesen. Morgen werde ich operiert, dann sehen wir weiter. Sie sagte, sie sei müde.
    Mach’s gut.
    Du auch.
    Sie versuchte zu schlafen, um nicht an den Unfall zu denken, nicht an die Operation, nicht an Matthias.
    Gegen Abend kam ihr Vater noch einmal vorbei. Er war sehr sachlich. Nach der ersten Operation könne sie im Prinzip nach Hause, sagte er.
    Aber es ist wohl ratsam, im Krankenhaus zu bleiben, bis du wieder einigermaßen …
    Bis ich wieder wie ein Mensch aussehe?, sagte Gillian.
    Bis du richtig gehen kannst. Wann darfst du das Bein belasten?
    Sie haben mir eine Platte reingemacht, sagte Gillian, in einer Woche sollte ich wieder gehen können.
    Außerdem ist es doch schön hier, sagte der Vater, fast wie in einem Hotel. Zu Hause könnten wir dir nicht die Pflege bieten, die du hier bekommst.
    Ich brauche keine Pflege, sagte Gillian.
    Wenn irgendwas ist, ruf mich an. Er stand auf und reichte ihr die Hand.
    Ich habe alles, was ich brauche, sagte Gillian. Grüß Mutter von mir.
    Du musst sie verstehen, sagte der Vater schon in der Tür.

    Der Vorraum des Operationssaals war voller grün gekleideter Menschen. Gillian versuchte, sich aufzurichten, um besser zu sehen, aber es gelang ihr nicht. Sie sah die Gesichter von unten, Mundschutz und flache Augen, darüber Augenbrauen, die prominenter wirkten aus dieser Perspektive, lächerliche Gazehauben. Ein Gesicht senkte sich, freundliche Augen mit Lachfalten, und eine Stimme fragte, wie es ihr gehe. Immer wieder diese Frage: wie es ihr geht. Sie stellte sich andere Fragen: Was ist von mir übrig geblieben? Und ist das, was übrig ist, mehr als eine Wunde? Was wird da zusammenwachsen? Werde ich das sein?
    Bevor sie antworten konnte, hatte sich das Gesicht wieder gehoben und verjüngt, schauten die Augen anderswohin. Der Mundschutz bewegte sich, sie hörte Sätze, die sie nicht zu verstehen versuchte, Anweisungen, ruhig und leise gesprochen. Sie spürte die Konzentration und eine
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