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Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Titel: Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)
Autoren: Peter Stamm
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Rückseite, den schwachen Reflex ihres Gesichts, eine Ahnung von Intaktheit. Wenn jemand sie jetzt betrachtet hätte, wäre sein Gesicht zu ihrem geworden. Dann drehte sie den Spiegel um, schaute sich lange an. Früher hatte sie sich manchmal zu Hause vor den Spiegel gestellt und sich tief in die Augen geschaut. Aber die Augen waren wie Glaskörper gewesen, die Pupillen Löcher, hinter denen die undurchdringliche Dunkelheit ihres Körpers verborgen lag.
    Sie versuchte mit aller Kraft, sich in diesem Fleisch wiederzuerkennen. Sie erkannte die Augen, die Augenbrauen, den Mund, aber sie bildeten kein Ganzes. Wenn der Arzt oder eine Schwester das Zimmer betrat, legte sie den Spiegel schnell auf den Nachttisch, und stellte sich vor, das Bild wäre darin gefangen und sie könnte es so vor den Blicken der anderen verbergen. Sie versuchte, in den Augen der Schwester Ekel oder Entsetzen zu sehen. Aber sie sah nur gleichgültige Freundlichkeit.
    Sie betrachtete die Gesichter der Schwestern, versuchte, sich in ihnen einzunisten. In Gedanken ahmte sie ihre Mimik nach, schob die Ober- über die Unterlippe, blinzelte, runzelte die Stirn. Sie verwickelte die Schwestern in Gespräche, nur um ihre Gesichter betrachten zu können, um sich in ihnen auszuruhen.

    Der Vater rückte einen Stuhl neben das Bett. Wenn Gillian den Kopf drehte, konnte sie sehen, wie er dasaß und an die Wand starrte, an der ein Ausstellungsplakat hing, eine grüne Fläche und diagonal darauf angeordnet drei rote Punkte.
    Gefällt dir das Bild?
    Drei Punkte. Sie hatte den Kopf vom Kissen gehoben. Er schaute kurz zu ihr und dann gleich wieder weg.
    John Armleder, sagte sie, der Name des Künstlers klang plötzlich bedrohlich.
    Man würde ihr die Haut abziehen, ganz hatte sie es nicht verstanden, aber der Arzt wollte Haut von der Stirn lösen, ohne sie von der Blutversorgung zu trennen, herunterklappen und für die neue Nase verwenden.
    Matthias ist tot, sagte der Vater.
    Ja, sagte Gillian, natürlich.
    Sie hatte es gewusst, sie hatte ihn gesehen. Ihr flossen Tränen über die Schläfen, bevor sie merkte, dass sie weinte. Der Vater nahm ein Kleenex aus einer Schachtel, die auf dem Nachttisch stand und wischte ihr die Tränen ab, eine ungewohnt zärtliche Geste.
    Es tut mir leid.
    Ich hätte tot sein können, den Satz hatte Gillian sich immer wieder gesagt, aber er hatte keine Bedeutung. Die Tränen hörten so plötzlich auf, wie sie angefangen hatten. Der Vater warf das Kleenex in den Mülleimer bei der Tür und kam zurück zum Bett, setzte sich wieder auf den Stuhl. Er wartete einen Moment, dann sagte er, sie müssten ein paar organisatorische Dinge klären.
    Mutter war in eurer Wohnung und hat das Nötigste erledigt.
    Gillian hatte, seit sie im Krankenhaus war, oft an ihre Kindheit gedacht und an die Zeit, nachdem sie das Elternhaus verlassen hatte, an die Schauspielschule, die Jahre auf kleinen Bühnen in der Provinz. Sie erinnerte sich vage, wie die Geschichte weiterging, die Heirat mit Matthias, die Arbeit beim Fernsehen. Sie hatte sich einen Schluss ausgedacht, eine Szene in einem Garten, ein sonniger Sommernachmittag, sie war älter geworden, aber immer noch eine anziehende Frau, ein Mann war da, sie tranken Weißwein und redeten über vergangene Zeiten.
    Matthias ist tot, sagte Gillian.
    Er hatte 1,4 Promille, sagte der Vater. Es war eine bloße Feststellung, als nenne er Matthias’ Größe oder sein Gewicht.
    Ich bin müde, sagte sie.
    Hauptsache, du bist am Leben, sagte der Vater.
    Das sagt man so. Ich weiß nicht …
    Er schaute sie kurz an und wandte sich gleich wieder ab.
    Deine Freundin hat gesagt, dass du dich mit Matthias gestritten hast.
    Kann sein, sagte Gillian, vielleicht haben wir uns gestritten.

    Matthias hatte den Film entdeckt und ihn zum Entwickeln ins Fotogeschäft gebracht. Kurz bevor sie zu Dagmars Silvesterparty fahren wollten, hatte er ihr die Abzüge hingeknallt.
    Wer hat die gemacht?
    Gillian hatte die Fotos, ohne sie genau anzuschauen, zusammengerafft und zurück in den Umschlag gesteckt.
    Das geht dich nichts an.
    Matthias lachte höhnisch auf. Es ist natürlich völlig normal, dass man sich so fotografieren lässt.
    Du kannst beruhigt sein, sagte sie, die Bilder kommen nicht an die Öffentlichkeit.
    Dann hast du es nur zum Spaß gemacht?
    Vielleicht wollte ich sie dir schenken, sagte sie.
    Matthias schwieg einen Moment. Und was wenn der Typ im Labor sich Abzüge gemacht hat?, fragte er. Aber dir scheint es ja egal zu sein,
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