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Irgendwann Holt Es Dich Ein

Irgendwann Holt Es Dich Ein

Titel: Irgendwann Holt Es Dich Ein
Autoren: Jane Hill
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EINS
     
    In der U-Bahn-Station Tottenham Court Road kam die Frau ins Abteil gestürzt. Sie musste an der Bahnsteigkante gestolpert sein, denn sie wäre fast der Länge nach hingefallen. Sie landete in den Armen eines Fahrgasts, der in der Nähe der Türen stand, ein bärtiger junger Mann, der einen Mantel im Military-Style trug. Er half der Frau, sich wieder aufzurichten, und bewegte sich höflich zur Seite, damit sie sich an die Trennwand am Ende der Sitzreihen lehnen konnte.
    Kate Callan beobachtete alles von ihrem Platz weiter hinten im Wagen aus. Ihr fiel das blonde, teuer zerzauste Haar der Frau auf, ebenso wie ihre weiche Wildlederjacke und die lächerlich hochhackigen Stiefel. Für einen Moment kam Kate die Frau irgendwie bekannt vor. Sie bemerkte außerdem die fahrige, verwirrte Art, mit der die Frau sich bei dem jungen Mann und allen Umstehenden entschuldigte, und schloss daraus, dass sie sehr, sehr betrunken war. Daraufhin wandte Kate sich ab und blickte konzentriert auf die Werbetafeln über den Köpfen der anderen Fahrgäste, um zu verdeutlichen, dass sie das alles nichts anging.
    Der Zug der Northern Line war voll und wurde mit jeder Station voller. Es war kurz nach sieben Uhr abends, und das Ende der Rushhour näherte sich. Beim Einsteigen in Charing Cross hatte Kate einen der letzten freien Plätze des Wagens erwischt und sich dankbar fallen lassen. Aus Erfahrung wusste sie, dass man seinen Sitzplatz nur behalten konnte, ohne sich dabei mies zu fühlen, wenn man systematisch den zufälligen Blickkontakt mit allen vermied, die einen Sitzplatz womöglich nötiger hatten. Nicht dass sie einem gebrechlichen Rentner oder einer Hochschwangeren ihren Platz hätte verweigern wollen, aber sie hoffte inständig, dass ihr so ein Opfer erspart bliebe. Und nun hoffte sie nicht minder inständig, dass die Betrunkene keine Szene machen würde. Die Kunst des U-Bahn-Fahrens bestand darin, keine Interaktion mit den Mitreisenden zu riskieren. Kate wollte einfach nur heil nach Hause kommen, ohne sich mit irgendjemandem oder irgendetwas Außergewöhnlichem auseinanderzusetzen.
    Es war ein Donnerstag Anfang Dezember, der erste frostige, beißend kalte Tag des Winters. Zehn Minuten hatte Kate am Morgen damit verbracht, nach ihren Handschuhen zu suchen; aber sie konnte sich partout nicht erinnern, wo sie die Dinger hingepackt hatte, nachdem sie sie im Frühjahr zuletzt getragen hatte. Also hatte sie sich in der Mittagspause ein neues Paar gekauft. Sie hatte sich sogar besonders schöne, teure, weiche Lederhandschuhe gegönnt; in Taubenblau mit einem pflaumenblauen Futter und kleinen Knöpfen am Handgelenk, auf der Unterseite. Sie rochen so herrlich nach Leder und Luxus, dass Kate sie gar nicht mehr ausziehen wollte. Gelegentlich strich sie sich damit wie zufällig übers Gesicht, um sie zu fühlen. Und sie fand den Geruch nach einem Tag voller kleinlicher Ärgernisse beruhigend.
    Am Morgen war Kate wie üblich um kurz vor acht zur Arbeit im Radiosender erschienen, einige Stunden, bevor sie auf Sendung ging. Sie nutzte die Zeit, um ihre E-Mails durchzusehen, die neuesten Nachrichten zu sichten und die Tagesschwerpunkte festzulegen. Dann suchte sie die Musikeinlagen für ihre Sendung aus und plante die Interviews für den Rest der Woche. Diese sogenannte »Showprep« war weder besonders anstrengend noch außergewöhnlich. Die Sendung selbst verlief gut. Doch anstatt wie üblich um vier aus dem Sender zu kommen, war Kate durch eine Reihe lästiger Kleinigkeiten im Büro aufgehalten worden und hatte auf Rückrufe und E-Mails warten müssen, die nicht zur vereinbarten Zeit eingetroffen waren.
    Danach hatte sie sich überreden lassen, mit einigen der Mädels aus dem Büro noch etwas trinken zu gehen. »Die Mädels« - wie Kate diese Bezeichnung hasste! In ein paar Jahren würde sie vierzig. Inzwischen glaubte sie sich das Anrecht verdient zu haben, als »Frau« und nicht mehr als »Mädel« bezeichnet zu werden. Jedenfalls waren sie in eine überfüllte Bar in der Nähe der Charing Cross Station gegangen, gleich um die Ecke vom Sender. Die meisten von ihnen hatten sich Cocktails mit dämlichen Namen bestellt; Drinks in grellen Farben mit albernen Papierschirmchen und Oliven, von denen sie zunehmend beschwipst und ganz giggelig wurden. Auch auf die Gefahr hin, als Spielverderberin zu gelten, war Kate bei Mineralwasser geblieben. Sie trank selten Alkohol, weil sie es hasste, die Kontrolle zu verlieren.
    In der Bar fanden bereits
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