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Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Titel: Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)
Autoren: Peter Stamm
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wer dich so sieht.
    Du hast doch den Film zum Entwickeln gebracht, sagte Gillian, ich habe dich nicht darum gebeten.
    Matthias verließ den Raum. Eine Stunde später stand er in seinem dunklen Anzug in der Tür und fragte, ob sie bereit sei. In diesem Moment verlor Gillian jeden Respekt vor ihm.
    Gut, sagte sie, fahren wir. Ich ziehe mich nur schnell um.
    Sie ging ins Schlafzimmer und zog ihr kürzestes Kleid an, schwarze Netzstrümpfe, hochhackige Schuhe. Sie schminkte sich die Lippen knallrot und tupfte ein wenig Parfüm hinter die Ohren, einen üppigen Duft, den Matthias ihr geschenkt und den sie kaum je verwendet hatte. Matthias stand ungeduldig im Flur.
    Als sie an ihm vorbei zur Wohnungstür ging, sagte er leise, gehst du auf den Strich oder zu einer Silvesterparty?
    Im Auto sprachen sie kein Wort, und während der Party tat er sein Bestes, nicht in ihre Nähe zu kommen. Gillian beobachtete ihn aus der Entfernung, wie er dastand, mit seinem geschniegelten Haar und dem glänzenden Anzug.
    Nachts um zwei saß nur noch der harte Kern um den großen Tisch, der voller schmutziger Teller und leerer Gläser war. Matthias war der einzige Mann, er stand abseits mit einem Glas in der Hand und starrte durch die Terrassentür in den dunklen Garten. Dagmar, die sich kürzlich von ihrem Freund getrennt hatte, sagte, es koste sie immer mehr Überwindung, Männer als erotische Objekte wahrzunehmen. Obwohl sie abgemacht hatten, dass Gillian nach Hause fahren würde, hatte sie ziemlich viel getrunken. Sie stimmte Dagmar zu und sagte, der weibliche Körper sei einfach schöner als der männliche. Dagmar stand auf, um zur Toilette zu gehen. Dabei blieb sie kurz hinter Gillian stehen, legte ihr die Hände auf die Schultern und küsste sie auf die Wange. Matthias öffnete die Terrassentür und ging hinaus in den Garten.
    Matthias war Kulturredakteur einer Illustrierten, in der kaum über Kultur berichtet wurde. Als sie sich kennengelernt hatten, arbeitete Gillian noch beim Lokalfernsehen. Er hatte sie beeindruckt, weil er in der Kulturszene alle und jeden kannte. Sie liefen sich immer wieder über den Weg, Matthias stellte ihr Leute vor und überredete sie, zu den Premierenpartys zu kommen. An einem sehr kalten Wintertag trafen sie sich bei einer Premiere in einem kleinen Theater über der Stadt. Nach der Vorstellung saßen sie zusammen mit den Künstlern an einem Tisch. Gillian unterhielt sich den ganzen Abend fast nur mit dem Komponisten. Er hatte sie nach ihrem Namen gefragt, und sie hatte ihm erklärt, dass ihre Mutter Engländerin sei. Sie hatte das Gefühl, der Komponist wüsste etwas über sie, was ihr selbst verborgen blieb. Als sie nach Mitternacht alle zusammen das Theater verließen, war die Straße schneebedeckt und ein eisiger Wind wehte. Matthias sagte, er müsse ihr etwas zeigen. Während die anderen zur Station der Standseilbahn gingen, führte er sie über die Straße zu einer kleinen Plattform, von der aus man eine wunderschöne Aussicht hatte. Die Lichter der Stadt flimmerten in der Kälte und selbst die Sterne schienen ungewöhnlich nah. Matthias zeigte ihr einen Gedenkstein, der unter einer großen Linde stand, und sagte, hier sei Büchner begraben. Er legte ihr den Arm um die Schultern und erzählte ihr das Märchen vom armen Kind aus Woyzeck, das Gillian noch aus der Schulzeit kannte. Und der Mond war ein Stück faules Holz, die Sterne kleine goldene Mücken und die Erde ein umgestürzter Hafen. Dann küssten sie sich.
    An jenem Abend war nichts weiter geschehen. Sie hatten sich an einer Tramstation getrennt und waren in unterschiedliche Richtungen gefahren. Erst im Frühling darauf verbrachten sie zum ersten Mal zusammen eine Nacht. Gillian hatte ein paar turbulente Beziehungen hinter sich und war froh, dass Matthias unkompliziert war und dass er sie wirklich zu lieben schien. Er war sehr zärtlich, aber mit der Zeit schliefen sie immer seltener miteinander. Sie hatten beide so viel zu tun, dass Gillian es immer wieder hinausschob, mit ihm darüber zu sprechen.
    Als er vor ihr niederkniete und um ihre Hand anhielt, lachte sie und zerzauste ihm die Haare. Das war in einem teuren Restaurant, wo man sie kannte und mit Namen grüßte. Die Situation war ihr erst peinlich gewesen, dann hatte sie ihr gefallen. In den nächsten Jahren hatte es immer wieder sorgfältig inszenierte romantische Diners oder Champagnerfrühstücke gegeben, eine Überraschungsparty an ihrem fünfunddreißigsten Geburtstag mit maskierten
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