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Die Tochter des stählernen Drachen

Die Tochter des stählernen Drachen

Titel: Die Tochter des stählernen Drachen
Autoren: Michael Swanwick
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    Sie war ein Wechselbalg, und ihr Entschluß, einen Drachen zu stehlen und dann zu fliehen, wurde in jener Nacht geboren, als die Kinder sich trafen und den verschwörerischen Plan faßten, ihren Aufseher zu töten. Allerdings wußte sie das damals noch nicht.
    So lange sie zurückdenken konnte, hatte sie in der Stahldrachenfabrik gelebt. Jeden Morgen wurde sie zusammen mit den anderen Kinderarbeitern von ihrem Schlafsaal im Gebäude 5 zum Frühstück in die Kantine geführt. Sie hatte kaum genügend Zeit, es vor der Arbeit hinunterzuschlingen. Gewöhnlich schickte man sie dann zum Polieren in die Zylindermaschinenabteilung, zu anderen Zeiten jedoch teilte man sie Gebäude 12 zu, wo die schwarzen eisernen Körper inspiziert und geschmiert wurden, ehe sie zum endgültigen Zusammenbau in die Montage abgingen. Die Tunnels im Unterleib waren zu klein für einen Erwachsenen. Sie hatte die Pflicht hineinzukriechen, sie auszufegen und dann diese düsteren Gänge zu schmieren. Sie arbeitete bis Sonnenuntergang und manchmal noch länger, wenn ein besonders wichtiger Drache unter Vertrag stand.
    Ihr Name war Jane.
    Am schlimmsten war es jedoch, wenn man sie den Gießereien zuwies. Diese waren höllisch im Sommer, auch schon bevor die Gußformen geleert wurden und Hitzewellen wie eine Faust von den Schöpfkellen herüberschlugen, und erbärmlich im Winter, wenn Schnee durch die zerbrochenen Fenster hereinwehte und grauer Matsch die Arbeitsebene bedeckte. Die dort arbeitenden Knocker und Hedgemen waren dunkle, behaarte Geschöpfe, die niemals sprachen; schwärzliche und muskulöse Wesen mit bösen roten Augen, deren Intelligenz bis auf die nicht weiter reduzierbare Schlacke verkohlt war, denn sie war jahrzehntelang magischen Feuern und kaltem Eisen ausgesetzt gewesen. Jane fürchtete sie sogar noch mehr als die geschmolzenen Metalle, die sie ausgossen, und die seelenlosen Maschinen, die sie bedienten.
    Eines Abends war sie im Zwielicht von der Gießerei zurückgekehrt, und ihr war zu schlecht zum Essen gewesen. Sie hatte sich fest in ihre dünne Decke gewickelt und war sofort eingeschlafen. Ihre Träume waren ein einziges Wirrwarr: sie polierte und polierte, während ringsumher Mauern einstürzten und Fußböden wie Kolben einer gigantischen Maschine hochschossen. Sie flüchtete unter ihr Bett im Schlafsaal und kroch an den geheimen Ort hinter den Wandbrettern, wo sie sich, als sie jünger gewesen war, vor Roosters kleinen Quälereien versteckt hatte. Doch kaum dachte sie an Rooster, da war er auch schon da, lachte gemein und schwenkte eine dreibeinige Kröte vor ihrem Gesicht. Er jagte sie durch die Untergrundhöhlen, zwischen den Sternen entlang, durch Kesselräume und Maschinenfabriken.
    Die Bilder stabilisierten sich. Sie sprang und hüpfte durch eine Welt mit grünem Rasen und riesig viel Platz. Ein merkwürdig vertrauter Ort, der, und das wußte sie, ihre Heimat sein mußte. Diesen Traum träumte sie oft. Darin gab es Menschen, die sich um sie sorgten und ihr alles zu essen gaben, was sie sich nur wünschte. Ihre Kleider waren sauber und neu, und niemand erwartete von ihr, zwölf Stunden täglich an der Werkbank zu sitzen. Sie besaß Spielzeug.
    Dann jedoch verdunkelte sich der Traum, wie immer. Sie spielte Seilhüpfen in der Mitte einer weiten Grasfläche, als irgendein innerer Sinn sie auf eine eindringende Gegenwart aufmerksam machte. Langweilige weiße Häuser umgaben sie, und dennoch wuchs die Überzeugung in ihr, daß irgendeine böswillige Intelligenz sie beobachtete. Böse Kräfte verbargen sich unter dem Rasen, drängten sich hinter jedem Baum, duckten sich unter den Steinen. Sie ließ das Seil fallen, sah sich verwundert um und rief einen Namen, an den sie sich nicht erinnern konnte.
    Der Himmel zerriß.
    »Wach auf, du Schlampe!« zischte Rooster drängend. »Wir haben heute nacht unser Geheimtreffen. Wir müssen entscheiden, was wir wegen Stilt unternehmen wollen.«
    Ruckartig wurde Jane wach. Ihr raste das Herz. In der Verwirrung unmittelbar nach dem Erwachen war sie froh, ihrem Traum entronnen zu sein, und zugleich tat es ihr leid, ihn verloren zu haben. Roosters Augen waren zwei kalte, in der Nacht treibende Monde. Er kniete auf ihrem Bett, und seine knochigen Knie bohrten sich in ihren Leib. Sein Atem roch nach einer Mischung aus Ulmenborke und verrottetem Laub. »Würde es dir was ausmachen wegzurücken? Du stichst mir in die Rippen.«
    Rooster grinste und kniff sie in den Arm.
    Sie schob ihn beiseite.
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