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Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Titel: Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)
Autoren: Peter Stamm
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zeigte hoch zu den Berggipfeln, die in den ersten Sonnenstrahlen rot glühten. Auch die anderen Tänzer hatten es bemerkt, manche standen still und schauten in die Höhe. Jill und Ursina waren an den Rand der Menge getreten und beobachteten, wie das Licht langsam die Berghänge herunterwanderte, bis es endlich das Festivalgelände erreichte.
    Ich glaube, ich gehe nach Hause, sagte Jill, ich bin nicht so fit wie du.
    Soll ich dich begleiten?, fragte Ursina.
    Jill schüttelte den Kopf. Ich finde schon den Weg.

    Sie nahm einen Shuttlebus zum Bahnhof. Mit ihr saßen ein paar müde Gestalten im Bus, einige sahen krank aus. Niemand sagte ein Wort, die Stille war wohltuend nach der lauten Nacht. Jill fühlte sich sehr nüchtern und klar, als wäre sie aufgewacht nach einer langen Bewusstlosigkeit. Am Bahnhof zog sie sich einen Kaffee an einem Automaten und setzte sich auf dem Bahnsteig in die Sonne. Sie betrachtete ihre schmutzigen Füße. Auch auf ihrem Rock waren Flecken. Im Zug dachte sie an das, was Ursina gesagt hatte. Sie fühlte sich wie als Kind, wenn sie beim Versteckspiel entdeckt worden war. Nach den atemlosen Minuten im Verborgenen war es wie eine Erlösung, sie konnte sich wieder frei bewegen, es war alles nur ein Spiel gewesen. Sechs Jahre lang hatte sie sich hier oben versteckt und gar nicht gemerkt, dass niemand sie suchte. Mit der Zeit hatte sie sich so gut in ihrem Versteck eingerichtet, dass es ihr vorkam wie ein wirkliches Leben. Nur im Frühling, wenn der Schnee nicht schmelzen wollte, hatte sie manchmal daran gedacht, wieder ins Unterland zu ziehen. Vielleicht hatte sie Hubert zu der Ausstellung im Kulturzentrum einladen wollen, damit er sie aus diesem Leben herausholen würde, das nicht ihres war. Das würde sie ihm sagen, wenn er zurückkam: Mach was du willst, du schuldest mir nichts.
    Sie stieg auf den Bus um. Der Fahrer grüßte sie und machte eine Bemerkung über das Wetter. In der ersten Sitzreihe saß eine alte Frau mit einer Reisetasche, die einzige andere Passagierin. Während der Fahrt unterhielt sie sich mit dem Chauffeur auf Rätoromanisch, Jill verstand nicht, was die beiden redeten. Sie musste daran denken, dass sich schon bald die Lärchen verfärben würden, dass der erste Schnee kommen und dann bis im März oder April liegenbleiben würde. Sie konnte sich nicht vorstellen, noch einen Winter allein hier auszuharren, die kalten Tage, die langen Nächte.
    Die Busstation lag etwa zweihundert Meter von ihrem Haus entfernt. Während Jill die Straße entlang auf das Haus zuging, stellte sie sich ihren Tag vor. Sie würde duschen und sich die Haare waschen, sich dann mit einem Cappuccino und einer Zigarette in den Garten setzen und die Sonntagszeitung lesen. Am Mittag würde sie wohl nichts essen, das vegetarische Gericht schlug ihr auf den Magen und sie hatte immer noch einen komischen Geschmack im Mund. Vielleicht würde sie am Nachmittag kurz ins Büro gehen und eine Kleinigkeit erledigen, nur um sich nicht ganz nutzlos vorzukommen und um mit jemandem ein paar Worte reden zu können. Die neuen Gäste würden unsicher herumstehen, weil sie sich im Haus nicht zurechtfanden und die Regeln des Clubs noch nicht kannten. Wir sagen alle du zueinander. Das Schwimmbad? Du gehst dem Flur entlang und dann die Treppe hinunter. Abendessen gibt es ab halb sieben. Anschließend wird der Gewinner des Schätzwettbewerbs verkündet. Ich wünsche dir einen schönen Aufenthalt. Sie rechnete nach, wann Hubert hier sein könnte, wenn er früh losfuhr, wenn er vorher mit Astrid und Lukas frühstückte, wenn er mit ihnen zu Mittag aß.
    Jill stand unter der Dusche, wusch sich den Dreck von den Füßen und wusste plötzlich, sie würde ihre Stelle kündigen und weggehen von hier. Nicht gleich, sie hatte keine Eile. Vielleicht würde Hubert mit ihr kommen, um gemeinsam irgendwo neu anzufangen, aber ihre Entscheidung hatte nichts mit seiner zu tun. Das Spiel war zu Ende, sie war frei und konnte gehen, wohin sie wollte.

Über Peter Stamm
    Peter Stamm, geboren 1963, studierte einige Semester Anglistik, Psychologie und Psychopathologie. Er lebt mit seiner Familie in Winterthur. Er arbeitete in verschiedenen Berufen, u. a. in Paris und New York. Seit 1990 arbeitet er als freier Autor und Journalist. Er schrieb mehr als ein Dutzend Hörspiele. Seit seinem Romandebüt ›Agnes‹ 1998 erschienen vier weitere Romane, vier Erzählsammlungen und ein Band mit Theaterstücken. Zuletzt erschienen 2009 der Roman ›Sieben
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