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Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Titel: Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)
Autoren: Peter Stamm
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gewesen. Keine einzige war unversehrt, es sah aus, als habe Hubert zuerst alle durchgestrichen, bevor er mit den Schraffuren begonnen hatte. Jill war plötzlich fest überzeugt, dass er nicht zurückkommen würde.
    Sie begann, eine der Zeichnungen mit Schraffuren zu bedecken, jene, auf der sie auf dem Bett kniete und die Hände hinter dem Rücken hielt, als wären sie gefesselt. Der Bleistift war zu hart, sie wählte einen anderen. Sie löschte das Bild aus, so als bettete sie ihren schutzlosen Körper zur Ruhe unter einer Schicht von Graphit, ein Fossil, das niemand je entdecken würde.

    Es war kurz vor Mitternacht. Jill zog die Strümpfe aus und trat barfuß aus dem Haus. Die Luft war kühl, der Boden kalt unter ihren Fußsohlen. Sie ging die Straße entlang. Vor ein paar Jahren war eine neue Brücke über die Schlucht gebaut worden, aber sie nahm denselben Weg wie damals. Die Straße in die Schlucht hinunter war abgesperrt, im Frühjahr war der Hang abgerutscht, und die Stützmauern mussten saniert werden. Jill stieg über die Abschrankung und ging an den Baumaschinen vorbei, die wie schlafende Tiere herumstanden. In einigen Zimmern im Kulturzentrum war noch Licht, und auch das Hotel war hell erleuchtet. Sie ging über die Wiese zum Anbau, in dem sich das Hallenbad befand. Es war umgebaut worden, nachdem der Club das Haus übernommen hatte. Sie schaute durch die großen Fenster hinein, aber sie konnte nichts erkennen außer dem Glimmen einiger Lichtschalter. Sie lehnte sich an das kalte Glas und schaute in den Sternenhimmel. Jemand musste ein Fenster geöffnet haben, aus dem Inneren des Hotels war Musik zu hören. Heute war wieder Captain Jack Sparrow an der Reihe, der Fluch der Karibik . Jill fror. In ihrem Büro hing eine Jacke. Sie ging um den Anbau herum zum Haupteingang.
    An der Rezeption war ein junger Grieche, der erst seit dieser Saison hier arbeitete und dessen Namen sich Jill nicht merken konnte. Er fragte, ob sie auch zum Open Air gehe. Sie sagte, sie müsse nur schnell etwas aus ihrem Büro holen. Als sie kurz darauf zurückkam, in ihrer Wolljacke und in Sandalen, die sie normalerweise während der Arbeit trug, standen ein paar der Angestellten im Foyer. Sie trugen bunte Sachen und sahen aus, als hätten sie sich verkleidet. Die Männer begrüßten Jill mit lautem Hallo.
    Kommst du mit zum Open Air?, fragte Ursina.
    Sie war eine der wenigen hier, die aus der Gegend stammten, sie sprach sogar Rätoromanisch, aber sie schimpfte über die Einheimischen und schien sich im Hotel wohler zu fühlen als im Dorf.
    Ich weiß nicht, sagte Jill, eigentlich wollte ich nur kurz ins Büro.
    Komm doch mit, sagte die Masseurin und umarmte Jill. Wann hast du das letzte Mal getanzt?
    An der Rezeption machten sich ein paar der Männer über den Griechen lustig, der Nachtdienst hatte und nicht mitkommen konnte. Draußen fuhr ein Minibus vor.
    Marcos fährt uns, sagte Ursina. Jill wurde von den anderen nach draußen gezogen und stieg schließlich mit in den Bus.
    Sie fuhren die Hauptstraße entlang das Tal hinauf. Marcos hatte eine CD eingelegt, eine blechern klingende Gitarre war zu hören, dann eine melancholische Frauenstimme. Von den hinteren Sitzen aus protestierten die Männer, ob er keine andere Musik habe, aber der Fahrer kümmerte sich nicht darum. Jill, die auf dem Vordersitz saß, fragte, was das für Musik sei.
    Fado, sagte er, aus Portugal, Amalia Rodriguez.
    Und was singt sie?
    Marcos schwieg, erst dachte Jill, er habe ihre Frage nicht verstanden, dann merkte sie, dass er zuhörte. Als nur noch die Gitarre spielte, begann er mit stockender Stimme seine Übersetzung.
    Was für eine sonderbare Art zu leben hat mein Herz. Einsames Herz, unabhängiges Herz, über das ich nicht befehle. Wenn du nicht weißt, wohin du gehst, wieso willst du dann unbedingt laufen.
    Das ist schön, sagte Ursina.
    Ihre Stimme war ganz nah. Jill wandte sich um und sah, dass sie ihren Kopf vorgestreckt hatte, um zuzuhören. Marcos sagte nichts mehr. Erst als sie nach einer halben Stunde von der Hauptstraße abbogen und einem schmalen Bergsträßchen in ein Seitental folgten, fragte er, was das für ein Konzert sei.
    Eine Goa-Party, sagte Gregor, ein junger Koch, von der Rückbank, Trance, weißt du.
    Er erklärte Marcos den Unterschied der verschiedenen Technostile. Jill hörte nicht hin, sie war müde, die Augen fielen ihr fast zu. Sie passierten ein Dorf und etwas später einen gespenstisch beleuchteten Zeltplatz. Fackeln steckten in
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