Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Titel: Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)
Autoren: Peter Stamm
Vom Netzwerk:
war sie barfuß und spürte den kalten Tau, der sich auf der Wiese gebildet hatte. Sie hatte keine Uhr an und keine Ahnung, wie spät es war.
    Geht es dir gut?, fragte Ursina.
    Mir ist es lange nicht so gutgegangen, sagte Jill.
    Wo ist eigentlich Hubert?, fragte Ursina. Ich habe ihn eine Weile nicht gesehen.
    Hubert ist Geschichte, sagte Jill.
    Ich mag ihn, sagte Ursina, er ist ein toller Maler. Plötzlich schlug Jills Stimmung um, sie bekam kaum noch Luft. Jetzt war ihr alles klar, Hubert schlief mit Ursina, die ganze Zeit schon. Deshalb malte er kaum noch und hatte die Akte zerstört, die er von ihr gemacht hatte. Vermutlich war Hubert gar nicht im Unterland, sondern versteckte sich in der Wohnung der Masseurin. Oder er war hier auf der Party. Ursina sah sie mit entsetztem Gesicht an.
    Was erzählst du denn da, sagte sie, du phantasierst ja.
    Jill schloss die Augen, ihr war schwindlig. Beinah wäre sie umgefallen, aber Ursina nahm sie in die Arme und half ihr, sich hinzusetzen.
    Es tut mir leid, sagte Jill und umarmte Ursina.
    Was tut dir leid?
    Ich weiß nicht, sagte Jill, alles. Alles tut mir leid.
    Ich muss schon wieder pinkeln. Sie musste lachen.
    Du warst noch gar nicht auf der Toilette, sagte Ursina.
    Jill tanzte weiter. Manchmal stand sie fast still dabei und bewegte nur noch den Kopf und die Achseln. Oder sie flog über die Landschaft, ohne mit den Flügeln zu schlagen. Über ihr sausten Wolken vorbei wie im Zeitraffer. Sie tauchte in ein blaues Meer, sah Unterwasserlandschaften, Fischschwärme, die in unglaublicher Geschwindigkeit und doch wie ein Körper zwischen bunten Korallenriffen hin und her schossen. Dabei schien sie der Musik immer um den Bruchteil einer Sekunde voraus zu sein, ihre Bewegungen riefen die Musik erst hervor, modulierten sie. Die Beats verformten den Raum, sie fühlten sich an wie riesige unsichtbare Blasen, die auf sie zuflogen und dann von ihr abprallten. Die Tänzer hatten die Arme gehoben und schubsten die Blasen immer wieder in die Luft, sie flogen höher und höher, schwebten über dem dunklen Tal. Weit unten war der Wald zu sehen, die Eisenbahnlinie und die Straße. Die Musik wurde leiser und wich schließlich dem monotonen Rauschen des Winds. Jill sah schneebedeckte Gipfel, dann Bergketten, eine hinter der anderen und dazwischen grüne Täler, die Poebene mit ihren schlafenden Städten, und in der Ferne die Lichter der Küstenorte und die schwarze Fläche des Meeres. Sie empfand nicht mehr das Gewicht und die Geborgenheit der Berge, sondern hatte ein Gefühl der Schwerelosigkeit, dem sie sich hingab ohne Angst.
    Als sie die Augen öffnete, lag sie auf dem Boden, den Kopf in Ursinas Schoß. Jemand hatte sie mit einer Windjacke notdürftig zugedeckt. Vor ihnen flackerte ein großes Feuer, um das noch andere Leute saßen, die Jill nicht erkannte. Ihre Gedanken waren wieder klarer.
    Hört die Musik nie auf?, fragte sie. Wie spät ist es?
    Ursina schüttelte den Kopf und schaute auf die Uhr. Halb vier.
    Wo sind die anderen?
    Keine Ahnung, sagte Ursina. Die werden den Weg zurück schon alleine finden.
    Jill richtete sich auf. Ich will nicht zurück, sagte sie ohne recht zu wissen, was sie damit meinte. Ich möchte wissen, was das für eine Pille war, die Gregor mir gegeben hat.
    Irgendein Mist, sagte Ursina, du solltest vorsichtiger sein. Hast du dich wirklich von Hubert getrennt?
    Er sich von mir, sagte Jill. Ich habe keine Ahnung, vielleicht auch nicht. Er ist bei seiner Ex, angeblich weil es ihr nicht gutgeht. Ich glaube nicht, dass er zurückkommt.
    Das kann ich mir nicht vorstellen, sagte Ursina.
    Jill lachte. Und warum nicht?
    Weil du der liebenswürdigste Mensch bist, den ich kenne, sagte Ursina. Wenn ich mir was aus Frauen machen würde, wärst du meine erste Wahl.
    Sie schaute Jill in die Augen. Im Ernst, du bist der gute Geist im Club, das sagen alle. Ich kenne ein paar Leute im Dorf, die dich ein bisschen verschroben finden, aber nur weil du so zurückgezogen lebst.
    Ursina stand auf und sagte, komm, wir gehen tanzen, mir wird langsam kalt.
    Die Menge vor der Bühne war kaum kleiner geworden. Ein anderer DJ legte jetzt auf, aber die Musik hatte sich kaum verändert. Ursina blieb immer in Jills Nähe. Irgendwann aßen sie etwas an einem Stand, ein orientalisch gewürztes vegetarisches Gericht, das zu lange gekocht worden war und eine schlammige Konsistenz angenommen hatte, dann tanzten sie weiter. Der Himmel wurde langsam hell. Ursina klopfte Jill auf die Schulter und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher