Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Titel: Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)
Autoren: Peter Stamm
Vom Netzwerk:
sich immer öfter zurück. Er hatte sich im oberen Stock, in Jills ehemaligem Kinderzimmer, eine Art Atelier eingerichtet. Dorthin verschwand er. Jill schaute fern oder las. Gegen Mitternacht klopfte sie an Huberts Tür. Er streckte kurz seinen Kopf heraus, küsste sie und sagte, er komme auch gleich ins Bett. Sie zog sich aus und putzte sich die Zähne. Lange stand sie im Bad vor dem Spiegel und wartete, aber Hubert kam nicht.
    Mitte September sagte er, er müsse zum Semesteranfang etwas länger in der Stadt sein, es sei viel Organisatorisches zu erledigen.
    Wie lange?, fragte Jill.
    Das kann ich noch nicht sagen, eine Woche, zehn Tage vielleicht.
    Warum hast du mir das nicht früher gesagt?, fragte sie. Dann hätte ich mich darauf einstellen können.

    In der Nacht träumte sie seit langem wieder einmal von Matthias. Sie hatten ein Kind zusammen, einen Sohn, der wie Lukas aussah. An das, was im Traum geschehen war, konnte sie sich am Morgen nicht erinnern, sie hatte nur noch dieses Bild vor Augen, ein Familienfoto mit ihr und Matthias in einer Berglandschaft, und zwischen ihnen der Junge.
    Hubert rief jeden zweiten Tag an. Er hatte nicht viel zu erzählen, und auch Jill wusste nicht, was sie sagen sollte.
    Alles wie immer, sagte sie, kommst du jetzt am Samstag?
    Ja, sagte er, ziemlich sicher.
    Du kannst kommen, wann du willst, sagte sie, aber ich wäre froh, wenn ich es vorher wüsste.
    Nach dem Gespräch ging es ihr schlechter als davor. Den Samstag hatte sie sich freigenommen, trotzdem stand sie früh auf. Sie verbrachte mehr Zeit als sonst im Bad. Sie war keine besonders gute oder begeisterte Köchin, aber heute wollte sie für Hubert ein Willkommensessen kochen. Der Metzger im Dorf empfahl ihr einen Rinderschmorbraten und erklärte ihr ausführlich die Zubereitung. Zu Hause setzte sie das Fleisch auf, deckte den Tisch und schmückte ihn mit den wenigen Wiesenblumen, die im Garten noch zu finden waren. Als alles vorbereitet war, klingelte das Telefon. Es war Hubert. Er sagte, er komme heute doch nicht. Er habe es nicht früher geschafft, sie anzurufen. Astrid gehe es nicht gut, sie brauche ihn.
    Bist du bei ihr?, fragte sie.
    Ich muss jetzt aufhören, sagte er.
    Jill setzte sich vors Haus, aber es war kühler, als sie gedacht hatte, und sie ging wieder hinein. Sie fing an, das Haus aufzuräumen. Als sie Huberts schmutzige Kleider in die Waschküche brachte, roch sie an ihnen und beruhigte sich ein wenig. Sie versuchte sich vorzustellen, wie es sein würde, wieder allein zu sein. In ein paar Jahren wurde sie fünfzig, und sie hatte zum ersten Mal das Gefühl, dass es für manches in ihrem Leben zu spät war.
    Sie saugte das Treppenhaus. Vor Huberts Arbeitszimmer zögerte sie. Seit er sich dort eingenistet hatte, hatte sie den Raum kaum noch betreten, sie wollte ihn nicht stören, ihn nicht bedrängen. Sie schaltete den Staubsauger aus und öffnete die Tür. Die plötzliche Stille verunsicherte sie, es war, als dringe das Schweigen ihrer Kindheit aus dem Raum und hülle sie ein. Jill wollte die Tür schon wieder schließen, dann trat sie ein und setzte sich auf den abgewetzten Sessel, der in einer Ecke stand. Das Zimmer sah noch fast so aus wie damals, als sie ein Kind gewesen war. Hubert hatte kaum Spuren hinterlassen, nur den Tisch hatte er leergeräumt, und auf dem Boden lagen einige Stapel mit Büchern, Notizheften und Zeichenblöcken. Die Deckenlampe tauchte den Raum in ein schwaches, gelbliches Licht. Sie ging zum Schreibtisch und öffnete den Zeichenblock, der dort lag. Sie nahm einen Bleistift in die Hand, als wolle sie selbst etwas zeichnen. Die Seiten des Blocks waren angefüllt mit Bleistiftschraffuren. Einige waren so dicht, dass sie glänzende Flächen bildeten und die einzelnen Linien kaum noch zu erkennen waren, trotzdem hatten sie eine räumliche Wirkung. Andere Blätter schienen noch nicht fertig zu sein, sie sahen aus wie Traumlandschaften, wie Landkarten, eine Aneinanderreihung kleiner Felder von Schraffuren, die in unterschiedliche Richtungen verliefen und in ihren Überlagerungen undurchschaubare Muster bildeten. Jill wusste nicht, was sie mit den Zeichnungen anfangen sollte, ob es Kunstwerke waren oder nur hilflose Versuche, die Zeit totzuschlagen. Als sie weiterblätterte, sah sie, dass es der Block mit den Aktzeichnungen war, die Hubert von ihr gemacht hatte, nachdem er zum ersten Mal hier übernachtet hatte. Vermutlich hatte er sich nichts dabei gedacht, es waren nur schnelle Skizzen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher