Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Titel: Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)
Autoren: Peter Stamm
Vom Netzwerk:
der Erde, große Feuer brannten, und einige der bunten Kuppelzelte waren von innen heraus erleuchtet. Marcos konnte jetzt nur noch im Schritttempo fahren. Jill sah im Licht der Scheinwerfer seltsame Figuren, die den Berg hinaufgingen oder herunterkamen, manche bewegten sich, als tanzten sie, andere ließen die Schultern hängen. Schließlich kamen sie zum Eingang des Festivalgeländes. Die Bühne war von hier aus noch nicht zu sehen, aber die Musik war schon zu hören, ein monotones Wummern. Marcos fragte, wann er sie abholen solle.
    Morgen früh, sagte Ursina lachend.
    Jemand meinte, sie würden schon irgendwie zurückkommen. Es gebe Shuttlebusse. Plötzlich waren alle irgendwohin verschwunden, nur Ursina stand noch neben Jill, nahm ihre Hand und zog sie zum Eingang.
    Schon während sie sich der Bühne näherten, fing Ursina an, sich im Rhythmus der Musik zu bewegen. Sie trug ein bauchfreies Top, das Haar hatte sie sich zu zwei Zöpfen geflochten.
    Ist dir nicht kalt?, fragte Jill.
    Sie beneidete Ursina um ihre schlanke Gestalt und ihre Beweglichkeit.
    Nicht mehr lange, sagte Ursina und führte sie durch die sich windende Menge nach vorn. Das Publikum war zum größten Teil halb so alt wie Jill, und sie kam sich fehl am Platz vor, aber niemand schien sich an ihrer Anwesenheit zu stören. Überhaupt war die Stimmung sehr entspannt. Die Musik war jetzt wie ein Teppich aus Tönen, Sitarklänge waren zu hören, eine Art Knistern und dann die Stimme eines alten Mannes, der auf Englisch etwas von Visionen und Frieden sagte. Der DJ auf der Bühne hob den Arm und warf mehrmals kurz hintereinander die Hand in Richtung des Publikums, und plötzlich dröhnte ein Rhythmus los. Die Töne waren so tief, dass Jill sie am ganzen Körper spürte und sich dagegenstemmen musste. Das Publikum begann wie auf Kommando zu hüpfen, ein Gewimmel von Körpern, die sich synchron bewegten. Einige ruderten mit den Armen, als schwämmen sie durch eine zähe Masse, andere standen fast still und zuckten nur mit den Schultern oder drehten den Kopf hin und her. Auch Jill konnte sich dem Rhythmus nicht entziehen und begann zögernd zu tanzen. Ursina drehte sich kurz zu ihr um, lächelte ihr zu und schraubte mit einer komplizierten und doch völlig harmonischen Bewegung die Arme in die Luft. Über der Bühne hingen bunte Stoffsegel, die mit Schwarzlicht beleuchtet wurden, die psychedelischen Muster, die hinter dem DJ auf eine Leinwand projiziert wurden, veränderten sich im Puls der Musik. Jill versuchte, an nichts zu denken. Einmal spürte sie eine Hand an ihrer Schulter, hinter ihr stand Gregor, der Koch. Er kam mit dem Mund ganz nah an ihr Ohr, aber sie verstand nicht, was er schrie. Gleichzeitig spürte sie, wie er ihr etwas in die Hand drückte. Jill schaute darauf und erkannte im Aufblitzen eines Scheinwerfers eine kleine Pille. Gregor zeigte auf seinen Mund, schrie noch einmal etwas, Jill verstand Spaß und kein Problem. Sie zögerte einen Moment, dann nahm sie die Pille in den Mund. Der Koch drängelte weiter und legte seine Hand auf die Schulter Ursinas, die nicht weit weg von Jill tanzte. Sie sah, wie die beiden die Köpfe zusammensteckten. Dann schüttelte Ursina den Kopf, wandte sich zu ihr um und schüttelte noch einmal den Kopf mit ärgerlichem Gesicht. Jill schloss die Augen und tanzte weiter. Die Musik schien sich auf einen Höhepunkt zuzubewegen, der nie kam. Irgendwann erlosch der Bass, und es waren wieder sphärische Klänge zu hören, bevor der Rhythmus erneut losbrach. Manchmal beschleunigte er sich immer mehr, eine Weile lang hielt Jill mit, dann gab sie auf und ließ sich treiben und wurde in den Strudel der Töne gezogen. Es kam ihr vor, als bewege sie sich in einem hohen Gebäude von Stockwerk zu Stockwerk nach unten, und überall war Musik, waren bunte Lichter und tanzende Menschen. Plötzlich hielt jemand sie fest. Jill öffnete die Augen und sah neben sich Ursina stehen.
    Komm, schrie Ursina, du musst dich ausruhen.
    Ich bin nicht müde, sagte Jill.
    Ursina nahm ihre Hand und führte sie aus der Menge zu einem Stand, an dem Wasser verteilt wurde.
    Du musst viel trinken, sagte sie, sonst kippst du irgendwann um.
    Ich muss zur Toilette, sagte Jill.
    Vor den Toilettenhäuschen, die am Rand des Geländes standen, hatte sich eine lange Schlange gebildet. Die Musik war hier weniger laut und vermischte sich mit dem Rauschen eines Bergbachs, der weiter unten vorbeifloss. Jill musste irgendwo ihre Sandalen verloren haben, jedenfalls
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher