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Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)

Titel: Nacht ist der Tag: Roman (German Edition)
Autoren: Peter Stamm
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Gegend herumtrieb. Lukas erkundigte sich oft nach ihm, er schien sich zugleich vor dem Tier zu fürchten und von ihm fasziniert zu sein. Bei jedem Rascheln fragte der Junge, ob das der Bär sei.
    Klar, sagte Hubert, er verfolgt uns.
    Mach ihm doch keine Angst, sagte Jill.
    Lukas beruhigte sich erst, als sie über die Waldgrenze kamen. Während Hubert und Lukas auf einem Felsen herumkletterten, musste Jill eingedöst sein. Als sie die Augen öffnete, schien der Himmel über ihr fast schwarz, obwohl die Sonne immer noch schien. Von Lukas und Hubert war nichts mehr zu sehen, nur manchmal hörte sie aus der Ferne ein Lachen oder einen Ruf. Es kam ihr vor, als hätte sie nie einen Unfall gehabt. Sie war verheiratet, hatte ein Kind und führte ein ganz normales Leben wie alle anderen. Die vergangenen Jahre waren eine Täuschung, das Leben einer anderen.
    Am Abend war zum ersten Mal sie es, die Lukas ins Bett brachte. Sie ermahnte ihn, als er sich die Zähne nicht lange genug putzte, und schaute ihm dabei zu, wie er seinen Pyjama anzog. Dann musste sie ihm helfen, seinen Plüschbär zu suchen, und er wollte noch einmal alles über den Bären wissen.
    Hast du ihn gesehen?, fragte er.
    Nein, sagte Jill, er ist sehr scheu, er zeigt sich nicht gern.
    Hat er keine Familie?, fragte der Junge.
    Nein, sagte Jill, ich glaube, er ist noch jung. Er streunt ein bisschen herum und schaut sich die Welt an. Ich glaube, Bären sind gern allein.
    Ich nicht, sagte Lukas.
    Ich auch nicht, sagte Jill. Sie küsste den Jungen auf die Stirn und rief nach Hubert.

    Als Lukas nach zwei Wochen von Astrid abgeholt wurde, schien Hubert weniger darunter zu leiden als Jill. Sie hatte sich nach dem Frühstück von ihm verabschiedet und war ins Büro gefahren, aber sie konnte sich nicht auf die Arbeit konzentrieren. Sie stand am Fenster und schaute hinaus in den Park. Wir sind alle eine große Familie, sagte ihre Chefin immer. Eine, zwei Wochen lang lebten sie diese Illusion, duzten sich, aßen zusammen an großen Tischen, machten Sport und Ratespiele, flirteten miteinander. Aber schon am Abreisetag fiel alles auseinander. Beim Frühstück beeilten sich die Gäste, die Eltern schimpften mit ihren Kindern, die nicht vorwärtsmachten, an der Rezeption gab es ein Gedrängel, weil alle gleichzeitig ihre Rechnung bezahlen wollten, und in der Lobby bildeten sich kleine Inseln aus Gepäckstücken, auf denen die Kinder saßen wie einsame Gestrandete. Viele reisten ab, ohne sich von irgendjemandem zu verabschieden. Gegen Mittag wurde es still im Haus, nur in den oberen Geschossen arbeiteten die Zimmermädchen auf Hochtouren, um die Spuren der Abgereisten zu beseitigen. Am Nachmittag trafen die neuen Gäste ein und alles begann von vorn.
    Jill ging früher nach Hause als sonst. Hubert saß im Garten und zeichnete. Als sie zu ihm trat, klappte er den Block zu.
    So, jetzt haben wir wieder unsere Ruhe, sagte er. Magst du ein Glas Wein? Er erzählte, dass er mit Astrid zu Mittag gegessen habe und dass sie erzählt habe, Rolf und sie seien in einer Krise. Ich weiß nicht, wo das Problem liegt, sagte er, sie hat vor Lukas nichts sagen wollen und nur Andeutungen gemacht. Ich glaube, er will Kinder und sie nicht. Überhaupt scheint er ziemlich konventionelle Vorstellungen von einer Beziehung zu haben. Ein esoterischer Spießer.
    Ist es spießig, sich Kinder zu wünschen?, fragte Jill.
    Sie ist einfach zu alt für ihn, sagte Hubert, das habe ich ihr von Anfang an gesagt.
    Und jetzt will Astrid dich zurück?, fragte Jill.
    Selbst wenn, sagte Hubert nach kurzem Zögern, als hätte er nie an diese Möglichkeit gedacht.

    In einem Monat fängt das Semester wieder an, sagte er beim Frühstück. Jill schaute ihn an, ohne etwas zu sagen. Es reicht, wenn ich zwei Tage in der Woche an der Hochschule bin, sagte er, dann und wann vielleicht drei. Den Rest der Zeit könnte ich hier sein. Was meinst du?
    Sie nickte. Wenn du magst.
    Hubert fuhr jeweils am Mittwochabend weg und kam am Freitag, kurz nach Mitternacht, mit dem letzten Zug zurück. Wenn Jill ihn mit dem Auto vom Bahnhof abholte, war er guter Laune, erzählte von den Studenten, von seinen Treffen mit Lukas, von Galerie- und Kinobesuchen. Im Hotel waren jetzt, nach den Ferien, weniger Gäste und die Malkurse fanden nicht mehr statt, dafür arbeitete Hubert wieder mehr an eigenen Sachen. Wenn Jill ihn danach fragte, wich er aus. Er rede nicht gern über das Projekt, mit dem er sich gerade beschäftigte, sagte er. Abends zog er
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