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Das Gedächtnis der Libellen

Das Gedächtnis der Libellen

Titel: Das Gedächtnis der Libellen
Autoren: Marica Bodrožic
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    Der Zug fährt langsam. Ich sitze im Großraumwagen. Mein Herz rast wie das Herz eines gejagten Tieres. Im Doppelschritt rast es, schon seit Stunden rast es. Ohne mich um Erlaubnis zu fragen, macht es eine Herzgejagte aus mir. Der Zug hält an der deutsch-holländischen Grenze. Offenbar hält er schon eine ganze Weile, ohne dass es mir auffällt. Meine Stiefel haben die höchsten Absätze, die ich auftreiben konnte. Ich habe mir die Stiefel für diese Reise gekauft. Ilja will mich vom Bahnhof abholen, Ilja, der beim Reden immer mit den Propheten in Konkurrenz tritt, er will mir alles über meine Zukunft sagen, ohne dass ich ihn darum gebeten habe.
    Ich habe einen Direktzug von Berlin nach Amsterdam gebucht. Nie zuvor habe ich mir überhaupt nur vorstellen können, mit dieser Art Absatz zu laufen, schon gar nicht auf eine Auslandsreise zu gehen. Seitdem ich Ilja kenne, bin ich in allem von meiner alten Perspektive abgerückt. Wenn er bei mir ist, kommt mir alles Verrückte normal und alles Normale verrückt vor. Ich rufe mir Iljas Blick in Erinnerung, male mir aus, wie es sein wird, ihn dort in Amsterdam zu sehen, seine Augen zu sehen, in einem fremden Land, unter fremden Menschen, und es kommt mir so hoffnungslos selbstverständlich vor, dass ich diese Absätze trage, dass ich mir diese Schuhe für diese Reise gekauft habe, von der ich nicht weiß, wie sie ausgehen wird und ob wir glücklich sein werden oder nicht.
    Im Zug ist es warm. Ich versuche zu lesen. Meine Gedanken sind kleine Insekten. Sie huschen von Gesicht zu Gesicht, von Fenster zu Fenster, von Koffer zu Koffer. Dann stehe ich auf und gehe von Abteil zu Abteil. Das Buch ist zum ersten Mal kein Freund, es öffnet mich nicht. Ich ziehe meinen Lippenstift nach, immer wieder, als könnte ich auf diese Weise meinen Mund im Hinblick auf die Unendlichkeit verschönern. Das Einzige was ich erreiche, ist aber nur ein klebriges Gefühl beim Schließen der Lippen. Es ist wie damals, in der Kindheit, als Preiselbeeren, Maulbeeren, Johannisbeeren und Himbeeren meine Ersatzschminke und Küsse nur Phantasiegebilde waren.

    Ilja liebt meinen Mund. Er sagt es mir nie laut, nicht mit Worten, nur wenn wir uns küssen, spricht er dann so mit mir. Er beißt zuerst in den einen Mundwinkel, dann in den anderen. Danach arbeitet er sich gleich mit seiner Zunge zu meiner Mitte vor, zum Offenen, wo ich mit meiner Zunge schon ungeduldig auf ihn warte. Ich rolle meine Zunge zusammen, lege sie wie eine spitze kleine Waffe nach vorne, ganz weit nach vorne, und wenn er mit seinen Lippen zu meiner Mitte kommt, ziehe ich meine Waffenzunge zurück, ich locke ihn herein, ich will Ilja ganz haben. Ilja kommt, er kommt immer, so, dass ich ihn noch tiefer in meinen Mund hereinlasse, weil auch er mich jetzt in sich hineinzieht. Ich schwitze, am Hals, hinter den Ohren, unter den Achseln, ich stelle es mir schon im Zug vor, wie ich schwitze und nichts mehr außer Iljas Atem hören kann, wenn er bei mir ist, in einem noch nie zuvor gesehenen Zimmer, wenn sein Atem meine Ohren ausfüllen wird und wir endlich dieses unbekannte Zimmer für uns allein haben werden. Hautnachbarschaft. Mundnachbarschaft. Ilja, Tag und Nacht.

    Ich sitze im Zug und warte auf seine Sätze, auf sein Gesicht, auf seine Hände, die warmen weiß leuchtenden Fingerkuppen, auf seinen Singsangwitz, der die ganze Spannung in unserem lauten Lachen auflöst. Ich träume seit Monaten von Iljas Händen. Warum ich seine Hände im Traum immer wieder genau vor mir sehe, das weiß ich nicht, aber seine Hände sind immer bei mir. Vielleicht träume ich von Beginn an von seinen Händen, weil ich weiß, dass sie nie für länger, schon gar nicht für immer bei mir bleiben werden. Traumhände bleiben nicht. Aber auch die echten Hände sind nicht bei mir geblieben.

    Ilja hat zarte Hände, weiche Hände, viel zu zart und viel zu weich für einen Mann, der einen Krieg überlebt hat, noch ein Junge war, damals, als plötzlich das Schwimmen im Fluss und das Spielen auf der Straße lebensgefährliche Dinge wurden. Seine Zeigefinger sind etwas uneben, die Knochen stechen merkwürdig hervor, und die Daumen haben eine ganze Landkarte von unauflösbar verlaufenden Linien in sich aufgesogen, wie um den Blick auf sie zu lenken oder um genau damit in die Irre zu führen. Ilja sagt, das habe er von seinem Vater, so seien auch seine Hände, mit diesen vielen Linien, genau so seien die Hände des Vaters, die Hände eines gesamtjugoslawischen Matrosen,
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