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Cyboria - Die geheime Stadt

Cyboria - Die geheime Stadt

Titel: Cyboria - Die geheime Stadt
Autoren: P. D. Baccalario
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Wie ein geölter Blitz
    W enn Ottos Großvater ihm das Gefühl geben wollte, etwas ganz Besonderes zu sein, sagte er ihm immer, er solle etwas ganz Schwieriges ausprobieren, denn die einfachen Sachen, die könne ja jeder.
    Vielleicht war das der Grund, warum Otto Folgore Perotti im Sattel des Fahrrads seines Großvaters saß und etwas wirklich sehr Schwieriges versuchte: Er musste erst mit aller Kraft in die Pedale treten, und wenn er an der schmalen Brücke angekommen war, all seinen Mut zusammennehmen und springen. Wenn er den Absprung gut erwischte und sich in der Luft drehte, konnte er darauf hoffen, dass er fünf Meter tiefer auf der schmalen Straße neben dem Kanal landen würde.
    Ein ziemlich verrückter Plan, und wirklich verdammt schwierig. Aber die einzige Möglichkeit, seinen Verfolgern zu entkommen: der Bande aus dem Gymnasium.
    Er hatte nicht viel Zeit zum Nachdenken: ganze drei Pedaltritte lang.
    Eins.
    Zwei.
    Und drei.
    Er hatte die Brücke erreicht. Jetzt musste er sich entscheiden. Ob sein Opa stolz auf ihn gewesen wäre? Er war sich nicht sicher, aber es blieb keine Zeit darüber nachzudenken.
    Er sprang.
    Die Bande war Otto dicht auf den Fersen, eben noch hatte sie ihn mit ihren Mofas auf der Straße verfolgt, die von Pisas Schiefem Turm in die Berge von San Giuliano führte.
    Jetzt trat er ins Leere. Und flog.
    Die Jungs vom Gymnasium mussten gehörig bremsen; sie trauten ihren Augen nicht.
    Einer schrie: »Jetzt ist er völlig verrückt geworden!«
    »Vorsicht!«
    »Er ist in den Kanal gestürzt!«
    Und wieder ein anderer: »Nein, der ist nicht gestürzt! Das hat er mit Absicht gemacht! Er … er springt drüber!«
    Sie schrien wild durcheinander, aber Otto hörte sie nicht mehr.
    Er trat weiter ins Leere und flog über das ruhig dahinfließende, schlammige Wasser des Kanals, mit der Silhouette der Pisaner Berge vor Augen und tausend wirbelnden Gedanken im Kopf.
    Er dachte an die Bande, die Jungs, die auf ihren dämlichen Mofas saßen und ihn vom Straßenrand aus beobachteten. Und er dachte daran, wie er jetzt am besten nach Hause kam, an die Straße, die am alten Aquädukt und am Kloster vorbei bis in die bewaldeten Hügel hinaufführte. Und mit dem letzten Tritt dachte er noch daran, dass das Kloster in Wirklichkeit gar keines war, man es aber schon immer so genannt hatte.
    Dann war Schluss mit Denken.
    Mit einem metallischen Quietschen prallte er auf. Die Kette klapperte und schepperte auf den Zähnen der Ritzel, die Pedale zitterten und die Reifen drohten zu platzen. Der rot gespritzte Rahmen stöhnte auf wie ein verwundetes Tier.
    Krach!
    Otto wurde in den Sattel gepresst, er umklammerte die Griffe der Lenkstange, und irgendwie gelang es ihm, das Gleichgewicht zu halten und das Rad sturzfrei auf die Straße zu bringen. Der Rucksack mit den Schulbüchern knallte ihm wie ein Peitschenhieb auf den Rücken.
    Krach!
    Aber er hatte es geschafft! Er war mit dem Fahrrad über den Kanal gesprungen und hatte seine Verfolger damit ein gutes Stück abgehängt. Er drehte sich nicht um. Er hörte sie Gas geben, bremsen und sich zwischen den hupenden Autos hindurchschlängeln. Sie versuchten so schnell wie möglich die Abzweigung auf die schmale Straße zu erreichen, auf der er gelandet war, etwa zweihundert Meter von der Brücke entfernt.
    Otto bremste und blickte durch die das Ufer säumenden Lindenbäume auf das dunkle, unergründliche Wasser des Kanals. In der Ferne waren ein paar kleine Holzhäuser aufgereiht. Die schmale Straße in Richtung Berge führte an einem stillgelegten Marmorsteinbruch vorbei. Schon von Weitem konnte Otto die rostigen Skelette der Kräne erkennen, die aussahen wie eiserne Giraffen. Wieder trat er mit aller Kraft in die Pedale. Der Gepäckträger klapperte und vibrierte, als ob er jeden Moment abfallen würde. Und vielleicht würde es tatsächlich so kommen, aber er hatte jetzt keine Zeit, sich darum zu kümmern.
    Er konnte nur hoffen und beten, dass das alte Bianchi-Fahrrad seines Opas, Jahrgang 1958, den Sprung gut überstanden hatte und dass der Stahlrahmen, der schon von so vielen Stürzen gezeichnet war, noch immer stabil war. Die Kette glitt über den Zahnkranz, die Pedale drehten sich rhythmisch, angetrieben von der Muskelkraft seiner Beine.
    Wie ein geölter Blitz raste er die Lindenallee entlang, wobei sich die Baumstämme und die freien Räume dazwischen im Takt seiner Geschwindigkeit abwechselten. In der Ferne hörte er das Knattern der Mofas. Er drehte sich um,
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