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Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Titel: Nahe dem wilden Herzen (German Edition)
Autoren: Clarice Lispector
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DER VATER
    Die Maschine des Vaters hämmerte klack-klack … klack-klack-klack … Die Uhr erwachte ohne großes Aufheben mit tin-tan. Die Stille schleppte sich schschschschschsch dahin. Was sagte der Kleiderschrank? Kleider-Kleider-Kleider. Nein, nein. Zwischen der Uhr, der Schreibmaschine und der Stille hörte ein Ohr zu, groß, rosafarben und tot. Die drei Geräusche waren durch das Tageslicht miteinander verbunden und durch das Rascheln der kleinen Blätter am Baum, die sich leuchtend eins am anderen rieben.
    Den Kopf an die glänzende, kalte Scheibe gelehnt, sah sie auf den Hof des Nachbarn hinaus, in die große Welt der Hühner-die-nicht-wussten-dass-sie-sterben-würden. Sie konnte die heiße, festgestampfte, so wohlriechende und trockene Erde wahrnehmen, als läge sie unmittelbar vor ihrer Nase, und sie wusste, wusste ganz genau, dass sich dort irgendwo der eine oder andere Regenwurm räkelte, bevor er von dem Huhn aufgegessen würde, das die Leute aufessen würden.
    Dann ein großer, stillstehender Moment, mit nichts darin. Sie öffnete die Augen weit, wartete. Nichts kam. Weiß. Plötzlich lief ein Zittern durch den Tag, und wie aufgezogen begann alles wieder anzulaufen, die Schreibmaschine holpernd, die Zigarette des Vaters qualmend, die Stille, die kleinen Blätter, die gerupften Hühner, die Helligkeit, die Dinge lebten wieder auf, hatten es eilig wie ein dampfender Wasserkessel. Es fehlte nur das Tin-tan der Uhr, das alles noch viel schöner machte. Sie schloss die Augen, tat so, als hörte sie es, und stellte sich zum Rhythmus der lautlosen Musik auf die Zehenspitzen. Sie machte drei leichte, beflügelte Tanzschritte.
    Dann plötzlich betrachtete sie alles angewidert, als hätte sie zu viel von dieser Mischung verzehrt. »Oh, weh …«, seufzte sie leise und erschöpft und dachte danach: was wird jetzt geschehen, jetzt jetzt jetzt? Und immer weiter tropfte die Zeit und tropfte, und nichts geschah, wenn sie weiter darauf wartete, was geschehen würde, verstehst du? Sie schob diesen schwierigen Gedanken beiseite, lenkte sich ab mit einer Bewegung ihres bloßen Fußes auf dem staubigen Holzboden. Sie rieb sich den Fuß und sah dabei aus dem Augenwinkel zum Vater hinüber, wartete auf seinen ungeduldigen, gereizten Blick. Aber da kam nichts. Nichts. Schwer, Menschen so anzusaugen wie ein Staubsauger.
    »Papa, ich habe mir ein Gedicht ausgedacht.«
    »Wie heißt es?«
    »›Ich und die Sonne.‹« Nach einer kurzen Pause begann sie:
    »›Die Hühner im Hof haben schon zwei Regenwürmer gegessen, aber ich hab es nicht gesehen.‹«
    »Und? Was haben du und die Sonne mit dem Gedicht zu tun?«
    Sie sah ihn eine Sekunde lang an. Er hatte es nicht verstanden …
    »Die Sonne liegt auf den Regenwürmern, Papa, und ich habe das Gedicht gemacht und die Regenwürmer nicht gesehen …« Pause. »Ich kann gleich noch eins machen:
    ›O Sonne, komm mit mir spielen.‹ Und noch ein längeres:
    ›Ich habe eine kleine Wolke gesehen
    der arme Regenwurm
    ich glaube, sie hat ihn nicht gesehen.‹«
    »Schön, mein Kleines, wirklich schön. Wie macht man eigentlich so hübsche Gedichte?«
    »Das ist nicht schwer, man braucht nur loszureden, dann kommt es von alleine.«
    Sie hatte die Puppe schon angezogen und wieder ausgezogen, hatte sie sich auf einem Fest vorgestellt, wo sie glänzte zwischen all den Töchtern. Ein blaues Auto fuhr durch Arletes Körper, tötete sie. Dann kam die Fee, und die Tochter war wieder lebendig. Die Tochter, die Fee, das blaue Auto war Joana selbst, sonst wäre das Spiel ja langweilig. Sie fand immer einen Weg, genau dann selbst die Hauptrolle zu übernehmen, wenn die eine oder andere Figur ins Rampenlicht trat. Sie arbeitete ernsthaft, schweigsam, die Arme an den Körper gelegt. Sie brauchte sich Arlete nicht zu nähern, um mit ihr zu spielen. Sogar aus der Ferne besaß sie die Dinge.
    Sie vergnügte sich mit den Bögen aus Pappe. Sie sah sie eine Weile an, und jeder Bogen war ein Schüler. Joana war die Lehrerin. Einer war gut, der andere böse. Ja, schon, und weiter? Und jetzt jetzt jetzt? Und dann immer nichts, wenn sie … Schluss.
    Sie erfand einen kleinen Mann, so groß wie der Zeigefinger, mit langen Hosen und einem Krawattenknoten. Sie trug ihn bei sich in der Tasche ihrer Schuluniform. Der kleine Mann war eine echte Perle, eine Perle mit Krawatte, hatte eine tiefe Stimme und sagte aus der Tasche heraus: »Majestät Joana, könntet Ihr mir eine Minute zuhören, könntet Ihr für eine
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