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Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Titel: Nahe dem wilden Herzen (German Edition)
Autoren: Clarice Lispector
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für ein Gedanke! Ich glaube, ich verstehe nicht, was du meinst, was für ein Gedanke! Formulier die Frage anders …«
    »Glücklich ist man, um was zu erreichen?«
    Die Lehrerin errötete – man wusste nie genau, warum sie rot wurde. Sie sah die Klasse an und schickte alle in die Pause hinaus.
    Der Schuldiener kam und rief das Mädchen ins Lehrerzimmer. Dort saß die Lehrerin.
    »Setz dich … hast du schön gespielt?«
    »Ein bisschen …«
    »Was willst du werden, wenn du groß bist?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Also gut. Sieh mal, mir ist auch ein Gedanke gekommen«, sie wurde rot. »Nimm ein Blatt Papier und notiere die Frage, die du mir heute gestellt hast, und hebe sie für eine lange Zeit auf. Lies sie wieder, wenn du groß bist.« Sie blickte sie an. »Wer weiß? Vielleicht kannst du sie dir eines Tages irgendwie selbst beantworten …« Ihre Ernsthaftigkeit verflog, sie errötete. »Oder vielleicht ist das gar nicht wichtig, und du wirst dich amüsieren über …«
    »Nein.«
    »Was nein?«, fragte die Lehrerin überrascht.
    »Ich amüsiere mich nicht gern«, erwiderte Joana stolz.
    Die Lehrerin wurde wieder rot:
    »Gut, nun geh spielen.«
    Als Joana mit zwei Sätzen an der Tür war, rief die Lehrerin sie zurück, diesmal war sie bis zum Hals rot, hatte den Blick gesenkt und machte sich an einigen Papieren auf dem Tisch zu schaffen:
    »Ist es dir nicht merkwürdig vorgekommen … lustig, dass ich dich aufgefordert habe, die Frage aufzuschreiben und sie aufzuheben?«
    »Nein«, antwortete sie.
    Sie kehrte auf den Schulhof zurück.

JOANAS SPAZIERGANG
    »Ich habe viel Ablenkung«, sagte Joana zu Otávio.
    So wie der Raum, umgeben von vier Wänden, einen spezifischen Wert hat, nicht so sehr, weil er Raum ist, sondern weil er von vier Wänden umgeben ist. Otávio machte sie zu etwas, was nicht sie, sondern er selbst war und was Joana aus Mitleid für sie beide entgegennahm, weil sie beide unfähig waren, sich durch die Liebe zu befreien, weil sie demütig die eigene Angst vor Leiden hinnahm und ihre Unfähigkeit, die Grenze der Auflehnung zu überschreiten. Und dazu kam: wie konnte sie sich sonst an einen Mann binden, außer indem sie ihm gestattete, sie gefangen zu nehmen? Wie konnte sie verhindern, dass er auf ihrem Körper und ihrer Seele seine vier Wände errichtete? Und gab es ein Mittel, Dinge zu haben, ohne dass die Dinge sie besaßen?
    Der Nachmittag war nackt und klar, ohne Anfang oder Ende. Schwarze, leichte Vögel flogen scharf umrissen durch die reine Luft, flogen, ohne dass die Menschen ihnen auch nur nachblickten. In der Ferne verharrte der Berg, wuchtig und verschlossen. Man konnte ihn auf zwei Arten betrachten: Man konnte sich ihn erstens weit weg und groß vorstellen, zweitens klein und ganz nah. Wie auch immer, ein dummer, brauner, harter Berg. Wie sie die Natur manchmal hasste. Ohne zu wissen, warum, schien ihr, dass dieser letzte Gedanke, vermischt mit dem Berg, etwas schlussfolgerte, das mit der offenen Hand auf den Tisch schlug: das ist es! – ganz schwer. Dieses graugrüne Etwas, das sich in Joana räkelte wie ein schläfriger, magerer, rauer Körper, ganz tief in ihrem Inneren, gänzlich trocken wie ein Lächeln ohne Spucke, wie überanstrengte Augen ohne Schlaf, dieses Etwas nahm Gestalt an, verfestigte sich vor dem ruhenden Berg. Was sie mit der Hand nicht greifen konnte, war jetzt glorreich und hoch und frei, es war müßig, zu versuchen, es einzufangen: reine Luft, Sommernachmittag. Denn da war sicher mehr als das. Ein unnützer Sieg über die dichtbelaubten Bäume, ein Nichtstun der Dinge. Oh, ja, Gott. Das, ja, das war es: Wenn es Gott gäbe, dann hätte er wohl diese Welt verlassen, die so unvermittelt, übertrieben sauber war wie ein Haus an einem Samstag, ruhig, staubfrei, nach Seife riechend. Joana lächelte. Warum gab ihr ein gewachstes, sauberes Haus das Gefühl, verloren zu sein wie in einem Kloster, in dessen Gängen sie verlassen umherstreifte? Und noch vieles andere fiel ihr auf. Wenn sie zum Beispiel das Eis auf der Leber aushielt, wurde sie von fernen, stechenden Gefühlen heimgesucht, von leuchtenden, schnellen Gedanken, und wenn sie dann sprechen sollte, würde sie sagen: erhaben, mit ausgestreckten Händen und vielleicht mit geschlossenen Augen.
    »Also, ich habe viel Ablenkung«, wiederholte sie.
    Sie kam sich vor wie ein trockener Zweig, der in die Luft stach. Brüchig und mit alter Rinde bedeckt. Vielleicht hatte sie Durst, aber es gab kein Wasser in der Nähe.
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