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Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Titel: Nahe dem wilden Herzen (German Edition)
Autoren: Clarice Lispector
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Körper strich, in ihn fuhr und ihn wiederbelebte. Sie öffnete die Augen etwas. Dort unten schimmerte das Meer in bleiernen Wellen, lag tief, mächtig, gelassen da. Es näherte sich gedrängt und rebellisch und überschlug sich in sich selbst. Dann, auf dem schweigsamen Sand, streckte es sich aus … streckte sich wie ein lebendiges Wesen. Jenseits der kleinen Wellen lag das Meer – das Meer. Das Meer, sagte sie leise, mit heiserer Stimme.
    Sie stieg von den Felsen herab und lief geschwächt den einsamen Strand entlang, bis das Wasser an ihre Füße reichte. In der Hocke, mit zitternden Beinen, trank sie ein wenig Meer. Und so verharrte sie, ruhte sich aus. Manchmal schloss sie halb die Augen, genau auf Höhe des Meeres und schwankte, so scharf war die Sicht – nur der lange grüne Strich, der ihre Augen bis ins Unendliche mit dem Wasser verband. Die Sonne brach durch die Wolken, und das glänzende Flimmern auf den Wellen war wie aufflackernde und wieder erlöschende kleine Feuer. Von jenseits der Wellen blickte das Meer schweigsam herüber, ohne zu weinen, ohne Brüste. Groß, groß. Groß, lächelte sie. Und ganz plötzlich, einfach so, unerwartet, fühlte sie etwas Starkes in sich, etwas Komisches, das sie ein wenig erzittern ließ. Aber es war nicht kalt, auch nicht traurig, es war etwas Großes, das vom Meer herüberkam, das vom Salzgeschmack im Mund kam, und aus ihr, aus ihr selbst. Es war nicht Traurigkeit, eine fast schreckliche Freude … Jedes Mal, wenn sie das Meer und den ruhigen Schimmer über dem Meer erblickte, fühlte sie die Verkrampfung und anschließende Entspannung im Körper, in der Taille, in der Brust. Sie wusste nicht einmal, ob sie dann lachen sollte, denn eigentlich war nichts Komisches dabei. Im Gegenteil, o ja, ganz im Gegenteil, dahinter verbarg sich das, was gestern geschehen war. Sie schlug die Hände vors Gesicht und wartete fast verschämt, fühlte die Wärme ihres Lachens und ihres Atems von neuem aufgesogen. Das Wasser umspielte ihre jetzt nackten Füße, sprudelte zwischen ihre Zehen, wich klar, ganz klar zurück wie ein durchsichtiges Tier. Durchsichtig und lebendig … Sie verspürte Lust, es zu trinken, es langsam zu beißen. Sie schöpfte es mit zu einer Muschel geformten Händen. Der kleine, ruhige See glitzerte heiter in der Sonne, wurde warm, entschlüpfte, floh. Der Sand nahm ihn hastig hastig auf und lag dann weiter da, als wäre das bisschen Wasser ihm nie begegnet. Sie benetzte ihr Gesicht und fuhr mit der Zunge über die leere, salzige Handfläche. Salz und Sonne waren kleine, flimmernde Pfeile, die hier und da auftauchten, sie stachen und die Haut ihres feuchten Gesichtes spannten. Ihr Glücksgefühl wuchs und ballte sich in der Kehle zu einem Luftbeutel. Aber jetzt war es eine ernste Freude, ohne das Verlangen zu lachen. Es war eine Freude fast zum Weinen, mein Gott. Da kam ihr langsam etwas zu Bewusstsein. Furchtlos, nicht grau und weinerlich, wie es bisher gewesen war, sondern nackt und still lag es in der Sonne wie der weiße Sand. Papa ist gestorben. Papa ist gestorben. Jetzt wusste sie wirklich, dass der Vater gestorben war. Jetzt hier am Meer, wo der Glanz ein Regen aus Wasserfischen war. Der Vater war gestorben so wie das Meer tief war!, begriff sie plötzlich. Der Vater war gestorben so wie man den Meeresgrund nicht sieht, spürte sie.
    Sie war nicht erschöpft vom Weinen. Sie verstand, dass der Vater nicht mehr da war. Weiter nichts. Und ihre Traurigkeit war eine große Müdigkeit, schwer, ohne Bitternis. Sie lief mit ihr den unermesslichen Strand entlang. Sie blickte auf die dunklen, schmalen Füße, die wie Zweige in dem stillen Weiß versanken und rhythmisch wieder auftauchten, wie Atemzüge. Sie lief und lief, und es war nichts zu machen: Der Vater war gestorben.
    Sie legte sich bäuchlings in den Sand, bedeckte das Gesicht mit den Händen und ließ nur einen kleinen Spalt zum Luftholen frei. Es wurde dunkel dunkel, und allmählich tauchten Kreise und rote Flecken auf, zitternde, volle Kugeln, die größer und kleiner wurden. Die Sandkörner juckten auf ihrer Haut, nisteten sich darin ein. Sogar mit geschlossenen Augen fühlte sie, wie die Wellen auf dem Strand schnell schnell vom Meer angesogen wurden, ebenfalls mit geschlossenen Lidern. Dann kamen sie sanft zurück, mit offenen Händen und entspannten Körpern. Es tat gut, ihr Rauschen zu hören. Ich bin jemand. Ich bin ein Mensch. Und noch vieles würde folgen. Aber was? Was nun noch käme, würde
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