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Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Titel: Nahe dem wilden Herzen (German Edition)
Autoren: Clarice Lispector
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und weil der Abgebildete zu Staub geworden ist – diese schlichte Absichtslosigkeit rief einen Moment des Wohlbehagens in ihr hervor. Auch ein Fahnenmast ohne Fahne, der stumm aufgerichtet in einen Sommertag ragt – Gesicht und Körper blind. Damit man eine Vision hatte, musste der Gegenstand nicht traurig oder heiter sein oder sich sonst irgendwie bekunden. Es genügte, dass er existierte, vorzugsweise still und schweigsam, damit man darin das Zeichen spüren konnte. Um Gottes willen, das Zeichen der Existenz … Aber danach brauchte man nicht zu suchen, zumal alles, was existierte, unweigerlich existierte … Die Vision bestand daraus, das Symbol der Dinge in den Dingen selbst zu erhaschen.
    Die Entdeckungen waren verwirrend. Aber das hatte auch einen gewissen Reiz. Wie sonst sollte sie sich selbst zum Beispiel erklären, dass spitze lange Linien eindeutig das Zeichen trugen? Sie waren fein und dünn. Zu einem bestimmten Zeitpunkt hielten sie an, so sehr Linien geworden, so sehr im selben Zustand wie am Anfang. Und unterbrochen waren sie, immer wieder unterbrochen, nicht weil sie etwa aufhörten, sondern weil niemand sie zu Ende führen konnte. Kreise waren vollkommener, weniger tragisch und berührten sie nicht genug. Kreis, das bedeutete das Werk eines Menschen, vor dem Tod beendet, und nicht einmal Gott konnte es besser abschließen. Während einzelne feine Linien – wie Gedanken waren.
    Und noch mehr Verwirrendes. Sie erinnerte sich an Joana als kleines Mädchen am Meer: Der Frieden, der von den Augen der Kuh ausging, der Frieden, der vom liegenden Körper des Meeres ausging, vom tiefen Bauch des Meeres, vom steifen Körper der Katze auf dem Gehsteig. Alles ist eins, alles ist eins …, hatte sie gesungen. Die Verwirrung lag im Verbundensein des Meeres, der Katze und der Kuh mit ihr selbst. Die Verwirrung kam auch daher, dass sie nicht wusste, ob sie »alles ist eins« schon in ihrer Kindheit gesungen hatte, am Meer stehend, oder erst später, in der Erinnerung. Dabei brachte die Verwirrung nicht nur einen gewissen Reiz mit sich, sondern die Wirklichkeit selbst. Wenn sie ordnen und genau erklären würde, was sie gefühlt hatte, dann hätte sie, so schien ihr, das Wesen des »alles ist eins« zerstört. In der Verwirrung war sie unbewusst die Wahrheit selbst, was vielleicht mehr Lebenskraft mit sich brachte, als sie zu kennen. Diese Wahrheit, die Joana, selbst wenn sie sich offenbarte, nicht nutzen könnte, weil sie nicht ihren Stamm bildete, sondern die Wurzel, und ihren Körper an alles band, was nicht mehr zu ihr gehörte, unwägbar, unfühlbar.
    Oh, es gab viele Gründe zur Freude, einer Freude ohne Lachen, ernst, tief, frisch. Wenn sie gerade in dem Augenblick, in dem sie sprach, etwas über sich selbst entdeckte, lief der Gedanke parallel zu den Worten. Einmal hatte sie Otávio Geschichten erzählt von Joana als Kind aus der Zeit des Hausmädchens, das wie niemand sonst spielen konnte. Sie spielte Träumen.
    »Schläfst du?«
    »Und wie.«
    »Dann wach auf, es dämmert schon … Hast du geträumt?«
    Zu Beginn träumte sie von Schafen, davon, dass sie zur Schule ging, von Katzen, die Milch tranken. Schon bald träumte sie von blauen Schafen, von einer Schule mitten im Wald, von Katzen, die Milch von goldenen Tellern tranken. Und die Träume wurden immer dichter und nahmen Farben an, die kaum in Worte auflösbar waren.
    »Ich habe geträumt, dass die weißen Kugeln von innen heraufgestiegen sind …«
    »Welche Kugeln? Von wo innen?«
    »Ich weiß nicht, nur, dass sie heraufgestiegen sind …«
    Otávio hatte ihr zugehört und dann gesagt:
    »Mir scheint fast, du bist zu früh alleingelassen worden … bei der Tante … all die Fremden … dann das Internat …«
    Joana dachte: Aber da war noch der Lehrer. Sie antwortete:
    »Nein … Was hätten sie denn sonst mit mir machen sollen? Ist es nicht das Schönste, eine Kindheit gehabt zu haben? Niemand kann sie mir wegnehmen …«, und in diesem Augenblick begann sie schon, sich selbst neugierig zuzuhören.
    »Ich würde um nichts auf der Welt in meine Kindheit zurückkehren«, sagte Otávio gedankenverloren und dachte dabei sicher an die Zeit mit seiner Cousine Isabel und der sanften Lídia. »Nicht für einen Augenblick.«
    »Aber ich doch auch nicht«, setzte Joana hastig hinzu, »nicht für eine Sekunde. Ich habe keine Sehnsucht danach, verstehst du?« Und in diesem Moment erklärte sie laut, bedächtig und wie geblendet: »Es ist keine Sehnsucht, weil
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