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Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Titel: Nahe dem wilden Herzen (German Edition)
Autoren: Clarice Lispector
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Augenblicke länger in der Empfindung verharren könnte – spielend leicht, wie wenn man den Rest der Welt sieht, indem man sich nur von der Erde in den Weltraum neigt. Ewigkeit war nicht nur die Zeit, sondern etwas wie die tief verwurzelte Gewissheit, dass man sie wegen des Todes nicht im Körper halten konnte; die Unmöglichkeit, über die Ewigkeit hinauszugehen, war selbst Ewigkeit; und ewig war auch ein Gefühl von absoluter, fast abstrakter Reinheit. Eine Vorstellung von Ewigkeit vermittelte sich ihr vor allem in der Unmöglichkeit, je zu erfahren, wie viele menschliche Wesen dem eigenen Körper noch folgen würden, der eines Tages mit der Geschwindigkeit eines Meteors von der Gegenwart entfernt wäre.
    Sie definierte Ewigkeit, und Erklärungen tauchten auf, unausweichlich wie Herzschläge. Nicht ein Wort würde sie daran ändern, so sehr waren sie ihre Wahrheit. Dennoch, kaum sprossen sie, schon wurden sie folgerichtig wieder leer. Ewigkeit zu definieren als eine Menge, die größer ist als die Zeit und sogar noch größer als die Zeit, die der menschliche Geist als Vorstellung ertragen kann, würde einem auch nicht gestatten, ihre Dauer zu ergründen. Ihre Eigenschaft war gerade, keine Quantität zu haben, nicht messbar und nicht teilbar zu sein, weil alles, was man messen und teilen konnte, einen Anfang und ein Ende hatte. Ewigkeit war nicht die unendlich große Menge, die sich verbrauchte, sondern Ewigkeit war Aufeinanderfolge.
    Da begriff Joana plötzlich, dass in der Aufeinanderfolge die höchste Schönheit lag, dass die Bewegung die Form erklärte – es war so erhaben und rein zu rufen: Die Bewegung erklärt die Form! –, und in der Aufeinanderfolge lag auch der Schmerz, weil der Körper langsamer war als die Bewegung ununterbrochener Kontinuität. Die Vorstellungskraft erfasste und besaß die Zukunft der Gegenwart, während der Körper am Beginn des Weges stehenblieb, in einem anderen Rhythmus lebte, blind gegenüber den Erfahrungen des Geistes … Mit diesen Betrachtungen – durch sie erweckte Joana etwas zum Leben – verband sie sich mit einer Freude, die sich selbst genug war.
    Es gab viele gute Empfindungen. Auf den Berg steigen, oben auf dem Gipfel anhalten und, ohne zurückzublicken, die bewältigte Strecke fühlen, dort unten in der Ferne der Bauernhof. Der Wind, der dann die Kleidung und das Haar zerzauste. Die Arme frei, das Herz, das sich wild schloss und öffnete, das Gesicht aber ungetrübt und heiter unter der Sonne. Und vor allem zu wissen, dass die Erde unter den Füßen so tief war und so geheimnisvoll, dass man nicht fürchten musste, das Verständnis würde eindringen und ihr Geheimnis zerstören. Dieses Gefühl hatte etwas Glorreiches an sich.
    Gewisse Augenblicke der Musik. Die Musik gehörte zur Kategorie des Gedankens, beide vibrierten in der gleichen Bewegung und auf gleiche Art. Von der gleichen Beschaffenheit wie der tief verborgene Gedanke, der sich offenbarte, wenn sie Musik hörte. Wie der tief verborgene Gedanke sich offenbarte, dass Joana, wenn jemand die leichtesten Nuancen der Klänge wiederholte, so überrascht war, als sei man in sie eingedrungen und habe sie auseinandergerissen. Sie konnte die Harmonie nicht einmal mehr fühlen, wenn die Melodie populär geworden war – sie gehörte ihr dann nicht mehr. Oder gerade wenn sie die Melodie mehrmals hörte, wurde die Ähnlichkeit zerstört: Denn ihre Gedanken wiederholten sich nie, während die Musik sich immer wieder in der Wiederholung ihrer selbst erneuern konnte – der Gedanke war nur vergleichbar mit Musik, die im Entstehen war. Doch Joana identifizierte sich nicht mit allen Tönen zutiefst. Nur mit den reinen Tönen, in denen das, was sie liebte, weder tragisch noch komisch war.
    Es gab auch viel zu sehen. Gewisse Momente des Sehens waren wie »Blumen auf dem Grab«: Was man sah, existierte dann. Joana erwartete jedoch keine Visionen in einem Wunder oder durch eine Ankündigung des Erzengels Gabriel. Sie überraschten sie in Dingen, die sie bereits erblickt hatte, aber plötzlich wie zum ersten Mal sehend, plötzlich verstehend, dass das alles immer da war. Zum Beispiel ein bellender Hund, der sich gegen den Himmel abhob. Das stand für sich und bedurfte keiner weiteren Erklärung. Oder eine offene Tür, die hin und her schwang, knarrend in der Stille eines Nachmittags … Und plötzlich, ja, da war das Echte. Ein altes Porträt von jemandem, den man nicht kennt und nie wiedererkennen wird, weil das Bild alt ist
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