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Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Titel: Nahe dem wilden Herzen (German Edition)
Autoren: Clarice Lispector
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Leben rinnt durch meine Finger und geht gelassen dem Tod entgegen, und ich kann nichts tun und sehe nur meiner Erschöpfung entgegen in jeder Minute, die vorübergeht, ich bin allein auf der Welt, wer mich mag, kennt mich nicht, wer mich kennt, fürchtet mich, und ich bin klein und armselig, in wenigen Jahren werde ich nicht mehr wissen, dass ich existiert habe, was mir zu leben bleibt ist wenig, und was mir zu leben bleibt, wird dennoch unberührt und sinnlos fortwähren, warum hast du kein Erbarmen mit mir? ich bin nichts, gib mir, was ich brauche, Herr, gib mir, was ich brauche, und ich weiß nicht, was das sein kann, meine Verzweiflung ist tief wie ein Brunnen, und ich irre mich nicht im Angesicht meiner selbst und anderer, komm zu mir im Unglück, und das Unglück ist heute, das Unglück ist immer, ich küsse deine Füße und den Staub an deinen Füßen, ich will mich in Tränen auflösen, aus der Tiefe rufe ich zu dir, komm mir zu Hilfe, ich habe keine Sünden, aus der Tiefe rufe ich zu dir, und nichts antwortet, und meine Verzweiflung ist trocken wie der Sand in der Wüste, und mein Erstaunen erstickt mich, erniedrigt mich, o Herr, dieser Stolz, lebendig zu sein, quält mich, ich bin nichts, aus der Tiefe rufe ich zu dir, aus der Tiefe rufe ich zu dir, aus der Tiefe rufe ich zu dir, aus der Tiefe rufe ich zu dir …
    Jetzt nahmen die Gedanken schon feste Gestalt an, und sie atmete wie ein Kranker, der das Schlimmste hinter sich hat. Irgendetwas stammelte noch in ihr, aber ihre Erschöpfung war groß, sie beruhigte ihr Gesicht zu einer glatten Maske mit leeren Augen. Aus der Tiefe die endgültige Hingabe. Das Ende …
    Aber aus der Tiefe als Antwort, ja, als Antwort, belebt durch die Luft, die noch immer in ihren Körper drang, richtete sich die klare, reine Flamme auf … Aus der finsteren Tiefe der unbarmherzige, brennende Anstoß, das Leben erhob sich erneut formlos, kühn, elend. Ein trockener Schluchzer, als hätte man sie geschüttelt, Freude loderte in ihrer Brust, eindringlich, unerträglich, oh, der Wirbelwind. Vor allem wurde die beständige Bewegung in der Tiefe ihres Seins klarer – jetzt wuchs und vibrierte sie. Diese Bewegung von etwas Lebendigem, das sich aus dem Wasser befreien und atmen wollte. Und auch wie fliegen, ja, wie fliegen war es … am Strand laufen und den Wind im Gesicht empfangen, die wehenden Haare, der Glanz über dem Berg … Sich erhebend, immer weiter, öffnet sich der Körper der Luft, überlässt sich dem blinden Klopfen des eigenen Blutes, kristallene, klingelnde Noten, funkelnd in ihrer Seele. Noch war da keine Enttäuschung angesichts ihrer eigenen Geheimnissen, o Herr, Herr, Herr – komm zu mir, nicht, um mich zu erretten, die Rettung wäre sonst in mir, aber um mich mit deiner schweren Hand zu ersticken, mit der Strafe, mit dem Tod, denn ich habe nicht die Macht und bin zu furchtsam, um mir den kleinen Schlag zu geben, der meinen ganzen Körper in diesen Mittelpunkt verwandeln wird, der atmen möchte und sich erhebt, immer weiter … der gleiche Impuls der Gezeiten und der Schöpfung, der Schöpfung! der kleine Anstoß, der im Verrückten nur den verrückten Gedanken leben lässt, die leuchtende Wunde, die wächst, schwebt, beherrscht. Oh, wie sie sich eins fühlte mit dem, was sie dachte, wie das, was sie dachte, auf großartige, überwältigende Weise endgültig war. Ich will dich nur, o Herr, damit du mich aufnimmst wie einen Hund, wenn alles erneut fest und vollständig ist, wenn die Bewegung meines sich aus dem Wasser reckenden Kopfes nur eine Erinnerung ist und wenn in mir nur Kenntnisse sind, die man benutzt hat und die benutzt werden und durch die von neuem empfangen und gegeben wird, o Herr.
    Was sich in ihr erhob, war nicht Mut, sie war nur Substanz, weniger als menschlich, wie konnte sie Held sein und wünschen, alle Dinge zu besiegen? Sie war keine Frau, sie existierte, und was es in ihr gab, waren Bewegungen, die sie für immer in den Übergang hoben. Vielleicht hatte sie einmal mit ihrer wilden Kraft die Luft um sich herum verändert, und niemand würde es je wahrnehmen, vielleicht hatte sie mit ihrem Atem eine neue Materie erfunden und wusste es nicht, sie fühlte nur, was ihr kleiner Frauenkopf niemals begreifen könnte. Horden heißer Gedanken keimten auf und schleppten sich durch ihren verängstigten Körper, und bedeutsam war an ihnen, dass sie einen Lebensimpuls enthielten, und bedeutsam war an ihnen, dass sich im Augenblick ihres Entstehens die
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