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Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Titel: Nahe dem wilden Herzen (German Edition)
Autoren: Clarice Lispector
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schüttelnd, verneinend, alternd. Nein, sagte sie aus der Tiefe der neuen Wahrheit zu ihnen, nein … Die Gestalten lösten sich in Rauch auf, denn sie war immer gewesen. Denn ihr Körper hatte nie jemanden gebraucht, er war frei. Denn sie lief durch die Straßen. Sie trank Wasser, hatte Gott, die Welt, alles abgeschafft. Sie würde nicht sterben. So leicht war das. Sie streckte die Hände aus, nicht wissend, was sie mit ihnen tun sollte, nachdem sie nun Bescheid wusste. Vielleicht sich streicheln, küssen, sich voller Neugier und Dankbarkeit wiedererkennen. Ohne sich weiterem Nachdenken hinzugeben, kam es ihr so unlogisch vor, zu sterben, dass sie jetzt verblüfft innehielt, von furchtbarer Angst ergriffen. War sie ewig? Gewaltig … Rasende, glänzende Überlegungen, wie Funken, die sich knisternd überkreuzten, mehr zu Gefühlen als zu Gedanken verschmolzen. Sie wechselte ohne Übergang, in leichten Sprüngen, von Ebene zu Ebene, immer höher, klarer, gespannter. Und mit jedem Moment fiel sie tiefer in sich selbst, in Höhlen milchigen Lichts, mit bebendem Atem, erfüllt von Angst und Glück über die Reise, vielleicht so, wie man im Schlaf zu Fall kommt. Die Eingebung, dass solche Augenblicke zerbrechlich waren, ließ sie sich sachte bewegen aus Furcht, sich zu berühren, sich zu bewegen und jenes Wunder aufzuwühlen und zu zerstören, das zarte Wesen aus Licht und Luft, das in ihr zu leben versuchte.
    Von neuem glitt sie zum Fenster, atmete vorsichtig. Eingetaucht in eine Freude, ganz zart und intensiv, fast wie die Kälte von Eis, fast wie die Wahrnehmung von Musik. Sie stand mit bebenden, ernsthaften Lippen da. Ewig, ewig. Glänzend und verworren folgten weite braune Länder, grün glitzernde, wild und melodisch dahinfließende Flüsse aufeinander. Wie Feuer schillernde Flüssigkeiten ergossen sich aus großen Krügen über ihr durchsichtiges Inneres… Sie selbst wuchs und wuchs über die erstickende Erde hinaus, teilte sich in Tausende lebender Partikeln, die gefüllt waren mit ihren Gedanken, ihrer Kraft, ihrem Unbewussten … Und durchquerte leichtfüßig die Klarheit ohne Nebel, lief, flog …
    Dort draußen schwang sich ein Vogel seitlich auf!
    Er durchquerte die reine Luft und verschwand in der Dichte eines Baumes.
    Hinter ihm klopfte die Stille in kleinem Säuseln. Wie lange hatte sie ihn schon beobachtet, ohne es zu merken.
    Ah, dann würde sie also sterben.
    Ja, sterben würde sie. So einfach wie der Vogel geflogen war. Sie neigte den Kopf zu einer Seite, sanft wie eine zahme Schwachsinnige: Aber es ist leicht, so leicht … nicht einmal intelligent … es ist der Tod, der kommen wird, kommen wird … Wie viele Sekunden waren vergangen? Eine oder zwei. Oder mehr. Die Kälte. Sie nahm wahr, dass sie sich jetzt wie durch ein Wunder der Gedanken bewusst geworden war, dass diese so tief waren, dass sie unter anderen Materialien und Oberflächen gleichzeitig hindurchgeglitten waren … Während sie den Traum gelebt hatte, hatte sie die Dinge um sich herum beobachtet, sie im Geiste benutzt, nervös wie jemand, der eine Hand um den Vorhang klammert, während er die Landschaft betrachtet. Sie schloss die Augen, sie war auf sanfte Weise gelassen und müde, in lange graue Schleier gehüllt. Für einen Augenblick fühlte sie drohend das Nichtbegreifen im fernen Innern ihres Körpers aufsteigen wie einen Blutstrom. Ewigkeit ist das Nicht-Sein, der Tod ist die Unsterblichkeit – noch schwebten sie frei umher, Reste der Qualen. Und sie wusste nicht mehr, womit sie sie in Verbindung bringen sollte, so müde war sie.
    Jetzt hatte sich die Gewissheit über die Unsterblichkeit für immer verflüchtigt. Noch ein- oder zweimal im Leben – vielleicht an einem ausgehenden Nachmittag, in einem Augenblick der Liebe, im Moment des Sterbens – würde sie die feinsinnige, schöpferische unbewusste Erkenntnis haben, die scharfe, blinde Eingebung, dass sie wirklich unsterblich war, auf immer.

DIE REISE
    Unmöglich zu erklären. Allmählich entfernte sie sich von jener Zone, in der die Gegenstände eine feste Form und Kanten haben, wo alles einen unverrückbaren und unveränderlichen Namen hat. Sie versank immer mehr in einer flüssigen, ruhigen, unergründlichen Region, wo unbestimmte, frische Nebel schwebten wie die der Morgendämmerung. Der Morgendämmerung, die auf dem Feld aufsteigt. Auf dem Hof des Onkels war sie um Mitternacht aufgewacht. Die Dielen des alten Hauses knarrten. Dort, vom ersten Stock aus, losgelöst im
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