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Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Titel: Nahe dem wilden Herzen (German Edition)
Autoren: Clarice Lispector
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Nachmittag, als sie den Brief des Mannes erhalten hatte, hatte sie einen neuen Weg gewählt. Nicht fliehen, sondern fortgehen. Das unangetastete Geld vom Vater nehmen, das bislang vernachlässigte Erbe, und gehen, gehen, demütig sein, leiden, sich von Grund auf erschüttern lassen, ohne Hoffnungen. Vor allem ohne Hoffnungen.
    Sie liebte ihre Wahl, und die Gelassenheit strich ihr jetzt übers Gesicht, brachte ihr vergangene, tote Augenblicke ins Gedächtnis. Einer dieser Menschen ohne Stolz und Scham zu sein, die sich jederzeit Fremden anvertrauen. So würde sie sich vor dem Tod mit ihrer Kindheit vereinen, durch die Nacktheit. Sich endlich erniedrigen. Wie kann ich mich ausreichend treten, wie mich der Welt und dem Tod öffnen?
    Das Schiff schwamm schwerelos über das Meer wie auf sanften, offenen Händen. Sie beugte sich über die Reling und fühlte, wie langsam Zärtlichkeit in ihr aufstieg, sie in Traurigkeit hüllte.
    Auf Deck liefen die Passagiere hin und her und konnten kaum die Teestunde erwarten, begierig, die Zeit mit der Zeit zu verbinden. Jemand sagte mit kummervoller Stimme: Sieh mal, der Regen! Und da näherte sich wirklich ein grauer Nebel, geschlossene Augen. Und wenig später sah man große Tropfen auf die Planken des Decks fallen, das Geräusch von fallenden Stecknadeln, und auch auf das Wasser, wo sie unmerklich die Oberfläche durchlöcherten. Der Wind wurde kälter, die Mantelkragen wurden hochgeschlagen, die Blicke wurden plötzlich unruhig und flohen vor der Melancholie wie Otávio mit seiner Furcht vor dem Leiden. De Profundis …
    De Profundis? Etwas wollte sprechen … De Profundis … Sich hören! … die flüchtige Gelegenheit ergreifen, die leichtfüßig am Rand des Abgrunds dahintanzte. De Profundis. Die Türen des Bewusstseins schließen. Zu Beginn verdorbenes Wasser wahrnehmen, taumelnde Sätze, aber danach mitten in der Verwirrung der dünne Strahl reinen Wassers, der über die raue Wand plätschert. De Profundis. Sich vorsichtig nähern, die ersten Wellen sich ausrollen lassen. De Profundis … Sie schloss die Augen, aber sie sah nur Halbdunkel. Sie fiel noch tiefer in die Gedanken, sah eine magere, unbewegliche Gestalt, hellrot umrandet, die Zeichnung eines von Blut feuchten Fingers auf einem Stück Papier, als sie sich verletzt hatte und der Vater nach Jod suchte. Im Dunkel der Pupillen waren die Gedanken zu geometrischen Figuren aufgereiht, eine über der anderen wie Honigwaben, einige waren leer, formlos, ohne Raum für eine Überlegung. Weiche, graue Formen, wie ein Gehirn. Aber das sah sie nicht wirklich, sie versuchte vielleicht nur es sich vorzustellen. De Profundis. Ich sehe einen Traum, den ich gehabt habe: eine dunkle, verlassene Bühne hinter einer Treppe. Aber gerade, wenn ich in Wörtern denke »dunkle Bühne«, ist der Traum vorbei und die Wabe leer. Das Gefühl welkt und ist nur noch im Geiste … Bis die Wörter »dunkle Bühne« ausreichend in mir gelebt haben, in meiner Dunkelheit, in meinem Duft, bis sie eine schattenhafte Vision werden, ausgefranst und undeutlich, aber hinter der Treppe. Dann werde ich erneut eine Wahrheit besitzen, meinen Traum. De Profundis. Warum kommt das, was sprechen will, nicht? Ich bin bereit. Die Augen schließen. Voller Blumen, die sich in Rosen verwandeln in dem Maße, wie das Tier erzittert und vorwärtsstrebt auf die Sonne zu, genauso wie die Vision viel schneller ist als das Wort, ich wähle die Geburt des Bodens aus, um … Sinnlos. De Profundis, danach wird der dünne Strahl reinen Wassers kommen. Ich habe den Schnee zittern sehen voller rosiger Wolken unter der blauen Geschäftigkeit der von Fliegen bedeckten Eingeweide in der Sonne, der graue Eindruck, das grüne, durchsichtige kalte Licht, das hinter den Wolken existiert. Die Augen schließen und die Inspiration wie einen weißen Wasserfall rollen fühlen. De Profundis. Mein Herr, ich harre deiner, Herr, komm zu mir. Herr, keime in meiner Brust, ich bin nichts, und die Ungnade fällt auf mein Haupt, und ich kann nur Worte benutzen, und Worte lügen, und ich leide weiter, schließlich der dünne Wasserstrahl auf der dunklen Wand. Herr, komm zu mir, und ich habe keine Freude, und mein Leben ist dunkel wie die Nacht ohne Sterne, und Herr, warum existierst du nicht in mir? warum hast du mich abgetrennt von dir erschaffen? Herr, komm zu mir, ich bin nichts, ich bin weniger als der Staub, und ich harre deiner jeden Tag und jede Nacht, hilf mir, ich habe nur ein Leben, und dieses
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