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Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Titel: Nahe dem wilden Herzen (German Edition)
Autoren: Clarice Lispector
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rosaroten Wellen wurden dunkler, der Schlaf floh. Was habe ich denn verloren? Was war es nur? Nicht Otávio, der war schon weit weg, nicht der Geliebte, der unglückliche Mann hatte nie existiert. Es kam ihr in den Sinn, dass er vielleicht inhaftiert worden war, ungeduldig schob sie den Gedanken beiseite, fliehend, Hals über Kopf … Als würde alles an demselben Wahnsinn teilhaben, hörte sie plötzlich in der Nähe einen Hahn seinen heftigen, einsamen Schrei ausstoßen. Aber es ist nicht früh am Morgen, sagte sie zitternd und strich sich über die kalte Stirn … Der Hahn wusste nicht, dass er sterben würde! Der Hahn wusste nicht, dass er sterben würde! Ja, genau: Papa, was kann ich mal machen? Ach, sie hatte den Takt eines Menuetts verpasst … Ja … die Uhr hatte tin-tan geschlagen, sie hatte sich auf Zehenspitzen gestellt, und die Welt hatte sich in jenem Augenblick viel leichter gedreht. Gab es irgendwo Blumen? und die große Sehnsucht, sich aufzulösen, bis ihre Enden sich mit den Anfängen der Dinge vermischten. Eine einzige rosige, weiche Substanz bilden – sanft atmen wie ein Bauch, der sich hebt und senkt, sich hebt und senkt … Oder irrte sie sich, und dieses Gefühl war jetzt? Was in jenem entfernten Augenblick lag, war etwas Grünes, Unbestimmtes, die Erwartung einer Fortsetzung, eine ungeduldige oder geduldige Unschuld? leerer Raum … Welches Wort könnte ausdrücken, dass sich in jener Zeit etwas nicht verdichtet hatte und freier lebte? Offene Augen, die zwischen gelblich werdenden Blättern schwebten, weiße Wolken und ganz weit unten ein ausgedehntes Feld, als hüllte es die Erde ein. Und jetzt … Vielleicht hatte sie sprechen gelernt, weiter nichts. Aber die Wörter schwammen über ihr Meer, unauflöslich, hart. Früher war es das reine Meer gewesen. Und übrig geblieben war von der Vergangenheit, leicht und zitternd in ihr fließend, bloß ein wenig des alten Wassers zwischen den Kieseln, düster und kühl unter den Bäumen, die mit ihren toten, braunen Blättern die Ufer säumten. Gott, wie süß sie versank im Nichtbegreifen ihrer selbst. Und wie sehr konnte sie sich jetzt, noch viel mehr, dem stetigen, sanften Rückfluss überlassen. Und umkehren. Sie müsste sich eines Tages mit sich selbst vereinen, ohne die harten, einsamen Wörter … Sie müsste zerschmelzen und erneut das stumme heftige starke weite unbewegliche blinde lebendige Meer sein. Der Tod würde sie mit ihrer Kindheit verbinden.
    Aber das Gitter am Tor war von Menschen gemacht, und da glänzte es unter der Sonne. Sie sah es, und unter dem Schock der plötzlichen Wahrnehmung war sie wieder eine Frau. Sie erbebte, verloren vom Traum. Sie wollte umkehren, umkehren. Woran hatte sie gerade gedacht? Ah, der Tod würde sie mit der Kindheit verbinden. Der Tod würde sie mit der Kindheit verbinden. Aber jetzt hatten ihre nach außen gerichteten Augen sich abgekühlt. Jetzt sah der Tod anders aus, seit die Menschen das Gitter gemacht hatten und seit sie eine Frau war … Der Tod … Und plötzlich war der Tod nur ein Stillstand … Nein!, rief sie sich erschrocken zu, nicht der Tod.
    Jetzt lief sie vor sich selbst her, schon weit weg von Otávio und dem verschwundenen Mann. Nicht sterben. Weil … Wo war denn tatsächlich der Tod in ihr?, fragte sie sich langsam, scharfsinnig. Sie öffnete weit die Augen, sie konnte noch nicht an diese so neue und faszinierende Frage glauben, die sie zu erfinden sich erlaubt hatte. Sie ging zum Spiegel, betrachtete sich – noch lebte sie! Der blasse Hals, der aus den zarten Schultern erwuchs, noch lebte sie! – und suchte sich. Nein, so hör doch, hör doch! der Beginn des Todes existiert nicht in dir! Und als durchquerte sie stürmisch ihren eigenen Körper auf der Suche, fühlte sie, fühlte sie aus ihrem Innern eine Brise Gesundheit sich erheben, sich weit öffnen, um zu atmen …
    Also konnte sie nicht sterben, dachte sie langsam. Nach einer Weile holte der zerbrechliche Gedanke tief Atem, wuchs, wurde kompakt und massiv wie ein Block, der sich ihren Konturen anpasste. Es gab keinen Raum für etwas anderes, für Zweifel. Das Herz schlug heftig, sie horchte aufmerksam in sich hinein. Sie lachte laut, ein bebendes, trillerndes Lachen … Nein … Aber es war so klar … Sie würde nicht sterben, weil … weil sie nicht enden konnte. Das war es, genau das. Ein flüchtiges Bild, das eines alten Mannes, vielleicht einer Frau, undeutliche Gestalten vermischt zu einer einzigen, den Kopf
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