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Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Titel: Nahe dem wilden Herzen (German Edition)
Autoren: Clarice Lispector
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stammelnde, keuchende Wut, dann wusste sie also von Lídia, von dem Kind … wusste und schwieg … Sie hat mich die ganze Zeit getäuscht … – Die erstickende Last drang immer tiefer in ihn ein. – Sie hat meine Schande gelassen hingenommen … weiter neben mir geschlafen, mich geduldet … seit wann? Warum? Aber heiliger Gott, warum? Warum?! …
    »Niederträchtig.«
    Aufgeschreckt hob Joana schnell den Kopf.
    »Abscheulich.«
    Seine Stimme konnte sich in der geschwollenen Kehle kaum halten, die Adern am Hals und auf der Stirn traten dick, knotig hervor, triumphierten:
    »Deine Tante hat dich Natter genannt. Natter, jawohl. Natter! Natter! Natter!«
    Jetzt schrie er hysterisch, unbeherrscht. Natter. Jeder Schrei vibrierte fast fröhlich in der Luft, kaum war er der zuckenden Quelle entschlüpft. Sie beobachtete ihn, wie er mit den Fäusten wie ein Wahnsinniger auf den Tisch hämmerte und vor Zorn weinte. Wie lange? Denn Joana war sich bewusst, wie einer fernen Musik, dass alles weiter existierte und die Schreie keine isolierten Pfeile waren, sondern mit dem verschmolzen, was schon da war. Bis er sich plötzlich erschöpft und leer auf einen Stuhl sinken ließ. Das Gesicht war schlaff, die Augen tot, er starrte auf einen Punkt auf dem Fußboden.
    Sie tauchten beide in einsames, ruhiges Schweigen. Vielleicht gingen Jahre vorüber. Alles war hell wie ein ewiger Stern, und sie schwebten so still, dass sie fühlen konnten, wie die zukünftige Zeit klar leuchtend in ihren Körpern heranrollte mit der Dichte einer langen Vergangenheit, die sie gerade Moment für Moment erlebt hatten.
    Bis die erste Helligkeit des Morgengrauens die Nacht auflöste. Im Garten zerriss die Dunkelheit in einem Schleier, und die Sonnenblumen erzitterten unter der aufkommenden Brise. Die kleinen Lichter aber flimmerten noch weit hinten in der Ferne wie vom Meer.

DER FORTGANG DER MÄNNER
    Am folgenden Tag erhielt sie einen Brief von dem Mann, in dem er sich verabschiedete:
    »Ich musste für einige Zeit weggehen, ich musste gehen, man hat mich geholt, Joana. Ich komme wieder, ich komme wieder, warte auf mich. Du weißt, ich bin nichts, ich komme wieder. Ich würde nicht einmal fähig sein, zu sehen und zu hören, wenn es Dich nicht gäbe. Wenn Du mich verlässt, lebe ich noch ein wenig, solange wie ein Vogel sich in der Luft halten kann, ohne mit den Flügeln zu schlagen, dann falle ich, falle und sterbe. Joana. Ich sterbe nur jetzt nicht, weil ich wiederkomme, ich kann es nicht erklären, aber ich kann durch Dich hindurchsehen. Gott helfe mir und Dir, Einzige, ich komme wieder. Ich habe noch nie so viel mit Dir gesprochen, aber bitte: Ich breche doch das Versprechen nicht, oder? Ich verstehe Dich so gut, so gut, alles, was Du von mir brauchst, muss ich tun. Der Herr segne Dich, hier ist meine kleine Münze mit dem heiligen Christophorus und der heiligen kleinen Theresia.«
    Sie faltete den Brief langsam zusammen. Sie sah sein Gesicht vor sich, wie es während der letzten Tage ausgesehen hatte, seine feuchten, verschleierten Augen einer kranken Katze. Darum die gedunkelte, rötliche Haut, wie eine Dämmerung. Wohin war er wohl gegangen? Sein Leben war gewiss durcheinander. Ein Durcheinander von Umständen. Und irgendwie schien er ihr mit diesen Umständen nicht verbunden zu sein. Die Frau, die ihn stützte, diese Zerstreutheit, wenn es um ihn ging, wie jemand, der keinen Anfang gehabt hat und auch kein Ende erwartet … Wohin war er gegangen? Er hatte in den letzten Tagen viel gelitten. Sie hätte mit ihm reden sollen, sie hatte es auch vorgehabt, aber dann, zerstreut und egoistisch, wie sie war, hatte sie es vergessen.
    Wohin war er gegangen? – fragte sie sich, mit leeren Armen. Der Wirbelwind drehte und drehte sich, und sie wurde wieder an den Beginn des Weges gestellt. Sie betrachtete den Brief, die Schrift war dünn und unsicher, die Sätze waren mit Vorsicht und Mühe geschrieben. Sie sah das Gesicht des Geliebten vor sich, und sie liebte zart die klaren Züge. Sie schloss für einen Moment die Augen, fühlte noch den Geruch, der aus den düsteren Korridoren jenes unerforschten Hauses kam, mit nur einem enthüllten Zimmer, wo sie erneut die Liebe kennengelernt hatte. Der Geruch alter Äpfel, süß und alt, der von den Wänden kam, aus den Tiefen des Hauses. Sie sah das schmale Bett wieder vor sich, das durch ein breites, weiches ersetzt worden war, die freudige Schüchternheit, mit der der Mann ihr an jenem Tag die Tür geöffnet und
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