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Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Titel: Nahe dem wilden Herzen (German Edition)
Autoren: Clarice Lispector
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in Joanas Gesicht geblickt hatte, ihre Überraschung überrascht hatte. Das kleine Schiff auf den allzu grünen Wellen, das fast untertauchte. Bei halb geschlossenen Lidern bewegte sich das Schiff. Aber alles war über sie hinweggeglitten, nichts hatte von ihr Besitz ergriffen … Kurz gesagt nur eine Pause, eine einzige Note, schwach und durchsichtig. Sie, die die Seele des Mannes vergewaltigt, sie mit einem Licht erfüllt hatte, dessen Unheil er noch nicht verstanden hatte. Sie selbst war kaum berührt worden. Eine Pause, eine leichte Note ohne Nachhall …
    Jetzt wieder ein Lebenskreis, der sich schloss. Und sie in Otávios ruhigem, stillem Haus, sie fühlte überall dort seine Abwesenheit, wo am Tag zuvor noch seine Dinge gestanden hatten und wo jetzt eine leicht verstaubte Leere herrschte. Gut, dass sie ihn nicht hatte fortgehen sehen. Und gut, dass sie im ersten Augenblick, als sie voller Schmerz seinen Fortgang bemerkte, geglaubt hatte, den Geliebten noch zu haben. »Als ich Otávios Fortgang bemerkte …?«, dachte sie. Aber warum lügen? Wer weggegangen war, war sie selbst, und auch Otávio wusste das.
    Sie zog das Kleid aus, das sie sich für den Besuch bei dem Mann angezogen hatte. Die Frau mit den feuchten, welken Lippen würde jetzt wahrscheinlich leiden, so allein und alt in dem großen Haus. Joana wusste nicht einmal seinen Namen … Sie hatte ihn nicht wissen wollen, sie hatte ihm gesagt: Ich will dich aus anderen Quellen kennenlernen und auf anderen Wegen zu deiner Seele gelangen; von deinem vergangenen Leben will ich nichts, weder deinen Namen noch deine Träume, noch die Geschichte deines Leidens; das Geheimnis erklärt mehr als das Licht; auch sollst du über mich nie etwas erfragen, was auch immer; ich bin Joana, du bist ein lebender Körper, ich bin ein lebender Körper, mehr nicht.
    Oh, Närrin, Närrin, vielleicht hättest du dann gelitten und geliebt, wenn du seinen Namen gekannt, von seinen Hoffnungen und Schmerzen gewusst hättest. Es stimmt, so war das Schweigen zwischen ihnen vollkommener gewesen. Aber was half es … Nur lebende Körper. Nein, nein, noch besser so: jeder mit einem Körper, den er vorwärtstrieb, gierig erleben wollte. Voller Habgier wollte einer über den anderen hinaus, voller listiger und zugleich rührender Feigheit baten sie einander, besser, immer besser existieren zu können. Mit dem Kleid in der Hand hielt sie plötzlich aufmerksam inne, leicht. Sie wurde sich der Einsamkeit bewusst, in der sie sich befand, mitten in einem leeren Haus. Otávio war bei Lídia, spürte sie, war zu jener schwangeren Frau geflohen, die voller Keime für die Welt war.
    Sie ging zum Fenster, fühlte die Kälte auf den nackten Schultern, betrachtete die Erde, wo die Pflanzen still lebten. Die Weltkugel drehte sich, und sie stand darauf. An einem Fenster, über sich den klaren, unendlichen Himmel. Es war sinnlos, sich in dem Schmerz jedes einzelnen Vorfalls einzurichten, sich gegen das, was geschehen war, aufzulehnen, weil die Umstände nur ein Riss im Kleid waren, erneut zeigte der stumme Pfeil auf den Grund der Dinge, ein Fluss, der austrocknet und das nackte Flussbett enthüllt.
    Die Nachmittagsfrische machte ihr Gänsehaut, Joana gelang es nicht, klar zu denken – es gab etwas im Garten, das sie aus ihrem eigenen Mittelpunkt heraushob, zum Schwanken brachte … Sie war auf der Hut. Etwas versuchte sich in ihr zu bewegen, antwortete, und über die dunklen Wände ihres Körpers stiegen leichte, frische, alte Wellen auf. Fast erschrocken wollte sie sich dieses Gefühls bewusst werden, sie wurde jedoch in einem sanften Taumel immer weiter nach hinten gezogen, von sanften Fingern. Als sei es morgens. Sie horchte in sich, plötzlich ganz aufmerksam, als sei sie zu weit vorgedrungen. Morgens?
    Morgens. Wo war sie einmal gewesen, in welchem fremden und wundersamen Land hatte sie schon einmal geruht, um jetzt dessen Duft zu spüren? Trockene Blätter auf der feuchten Erde. Ihr Herz zog sich langsam zusammen, öffnete sich, einen Augenblick hielt sie wartend den Atem an … Es war morgens, sie wusste, dass es morgens war … Zurückversetzt in der Zeit, wie an die zerbrechliche Hand eines Kindes genommen, hörte sie gedämpft, wie im Traum, Hühner, die die Erde aufscharrten. Heiße, trockene Erde … Die Uhr schlug tin-tan … tin … tan … Die Sonne regnete in kleinen roten und gelben Rosen auf die Häuser … Gott, was war das, wenn nicht sie selbst? Aber wann? nein, immer …
    Die
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