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Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Titel: Nahe dem wilden Herzen (German Edition)
Autoren: Clarice Lispector
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sie.
    Während er sie jetzt betrachtete, ohne dieses Gesicht deuten zu können, wollte er das Gefühl von früher wiederherstellen, in den Garten der Cousine Isabel zurückkehren.
    Aber statt irgendeines anderen Gedankens begriff er plötzlich, dass Joana fortgehen würde. Ja, er würde hierbleiben, da waren Lídia, das Kind, er selbst. Sie würde gehen, er wusste es … Aber was machte das, er brauchte Joana nicht. Nein, nicht »er brauchte sie nicht«, aber er »konnte nicht«. Und auf einmal verstand er wirklich nicht mehr, wie er so lange an ihrer Seite hatte leben können, und es schien ihm, dass er nach ihrem Fortgang einfach die Gegenwart mit jener fernen Vergangenheit verbinden müsste, das Haus der Cousine Isabel, als Lídia seine Braut war, als er Pläne gehabt hatte, ein ernsthaftes Buch zu schreiben, seine eigenen, lauen Qualen, süß und abstoßend wie ein Laster, mit jener Vergangenheit, die durch Joana bloß unterbrochen worden war. Es würde gut sein, sich von ihr zu befreien, den Plan des Buches über Zivilrecht wieder aufzugreifen. Er sah sich schon, wie er sich voller Vertrautheit zwischen seinen Dingen bewegte.
    Aber mit merkwürdiger, plötzlicher Klarheit sah er sich selbst, vielleicht an einem Nachmittag, einen leichten Schmerz in der Brust, die Augen zusammengekniffen, wissend, dass seine Hände leer waren, ohne dass er sie betrachten musste. Das undeutliche Gefühl des Verlustes, wenn Joana ihn verlassen würde … Sie würde in ihm aufsteigen, nicht in seinem Kopf wie eine gewöhnliche Erinnerung, sondern im Mittelpunkt seines Körpers, vage und leuchtend, sie würde sein Leben wie das plötzliche Läuten einer Glocke unterbrechen. Er würde leiden, als würde sie verrückte Dinge erlügen, aber als könnte er die Halluzination nicht loswerden und würde sie immer tiefer einatmen wie Luft, die sich im Inneren seines Körpers gesegnet in Wasser verwandeln könnte. Er würde den offenen, hellen Raum in seinem Herzen fühlen, wo keines der Samenkörner Joanas sich in einen Wald hatte verwandeln können, weil sie nicht zu besitzen war, wie ein zukünftiger Gedanke. Und dennoch war sie sein, ja, tief, undeutlich wie eine Melodie, die man einmal gehört hat. Du Meine, Meine, geh nicht fort!, flehte er aus der Tiefe seines Wesens.
    Aber er würde diese Worte nie aussprechen, weil er sich wünschte, sie möge gehen, denn er wüsste nicht, was er mit Joana anfangen sollte, wenn sie bliebe. Er würde zu Lídia zurückkehren, die schwanger und weit war. Allmählich erkannte er, dass er den Verzicht auf das gewählt hatte, was in seinem Wesen am kostbarsten war, den Verzicht auf diesen kleinen leidenden Teil, der an Joanas Seite leben konnte. Und nach einem schmerzvollen Augenblick, als würde er sich selbst verlassen, die Augen glänzend vor Müdigkeit, fühlte er sich zu ohnmächtig, um sich noch etwas für die Zukunft zu wünschen. Erstaunt wohnte er schließlich seiner heftigen und merkwürdigen Reinigung bei, als beträte er langsam eine anorganische Welt.
    »Willst du wirklich ein Kind?«, fragte er, weil er Angst hatte vor der Einsamkeit, in die er vorgedrungen war, und sich plötzlich an das Leben klammern, auf Joana stützen wollte, bis er sich auf Lídia stützen konnte, wie jemand, der sich beim Überqueren eines Abgrunds an kleinen Steinen festhält, bis er auf den großen hinaufsteigt.
    »Wir wüssten nicht, wie wir es zum Leben erwecken sollten …«, erklang Joanas Stimme.
    »Ja, du hast recht …«, antwortete er erschrocken. Und er wünschte sich heftig, Lídia möge jetzt da sein. Umkehren, für immer umkehren. Er begriff, dass dies seine letzte Nacht mit Joana sein würde, die letzte, allerletzte …
    »Nein … vielleicht habe ich doch unrecht«, fuhr Joana fort. »Vielleicht denkt man an all das nicht, bevor man ein Kind hat. Man schaltet eine starke Lampe ein, alles ist hell und sicher, man trinkt jeden Nachmittag Tee, man stickt, vor allem eine Lampe, die heller ist als diese hier. Und das Kind lebt. Das ist sehr wahr … so sehr, dass du keine Angst gehabt hast um das Leben von Lídias Kind …«
    Kein Muskel in Otávios Gesicht bewegte sich, seine Augen blinzelten nicht. Aber sein ganzes Selbst zog sich zusammen, seine Blässe leuchtete wie eine brennende Kerze. Joana sprach bedächtig weiter, aber er hörte nicht zu, weil ganz langsam, fast ohne einen Gedanken, Wut aus seinem beschwerten Herzen aufstieg, seine Ohren betäubte, die Augen verdunkelte. Was – in ihm kämpfte eine
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