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Eifler Zorn

Eifler Zorn

Titel: Eifler Zorn
Autoren: Elke Pistor
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Prolog
    Speichel läuft aus seinem rechten Mundwinkel den Hals hinab bis unter
     das Hemd. Der ölige Leinenstoff füllt seinen Mund, lässt ihm keine Luft zum
     Atmen. Metallischer Geschmack. Würgereiz. Er hebt den Kopf, schiebt mit der
     Zunge, zerrt und stemmt sich über den stechenden Schmerz in seinem Kiefer
     hinweg gegen den Widerstand des Knebels. Er schließt die Augen. Sie haben ihn
     fest verschnürt. Ein Tier vor dem Schlachter. Er hat sich nicht gewehrt. Schweigend
     nachgegeben, als sie seine Arme weit über die Platte nach vorne zogen, die
     Beine spreizten und ihn an allen vier Gelenken mit groben Seilen festbanden.
     Jetzt schlagen sie ihn, wahllos gehen die Hiebe auf seinen Kopf, seinen Rücken
     und auf seinen Hintern nieder, während er ihren Blicken ansieht, dass sie auf
     ein Stöhnen warten. Einen Laut, den er von sich gibt, als Reaktion auf das, was
     sie ihm antun. »Die Ordnung wiederherstellen«, so nennen sie es. Eine Ordnung,
     die sie bestimmen, die ihren Grundsätzen gehorcht, nicht den Regeln, die er
     kennt, und gegen die er verstoßen hat. Deswegen ist er jetzt hier. An seiner
     Leiste spürt er die harte Kante des Tisches. Zwischen den Schlägen scharren
     Schritte über den Boden, nähern sich ihm langsam. Jemand herrscht Befehle,
     einen Namen. Das kann nicht sein. Er versucht, den Kopf zu drehen, zu sehen, ob
     es stimmt. Ob er gekommen ist, um ihm noch mehr Leid zuzufügen. Aber es gelingt
     ihm nicht. Und es hat auch keine Bedeutung mehr, denn sie ist da. Steht neben
     der Tür in ihren Kleidern, die sie von den anderen unterscheiden. Ihren Rang
     deutlich hervorheben und für jeden sichtbar machen, damit keine weiteren
     Grenzen überschritten werden. Sie haben sie hierher gebracht, damit sie
     zusieht, was mit einem wie ihm geschieht, bevor sie sie verjagen. Er riecht
     sie, ihren Geruch nach Sommer, der in diesem Haus so fremd und falsch ist.
     Verzweifelt presst er seine Wange gegen die Tischplatte und spürt die Nässe.
     Seinen Speichel und die Tränen seines Vorgängers. Er möchte weinen dürfen. Aber
     diesen Triumph gönnt er ihnen nicht. Er wird stark bleiben, nicht jammern und
     bitten und Besserung geloben, er wird … Der nächste Schlag trifft ihn auf
     den Oberschenkel. Die Dornen fressen sich in sein Fleisch wie die Zähne eines
     kleinen Tieres. Spitz und scharf und unnachgiebig. Schwarzdornäste. Daumendick.
     Er versucht sich zu erinnern, wie der Busch im Frühjahr ausgesehen hat, aber
     das Bild zerplatzt in einer Blase aus Schmerz, als die Schläge immer schneller
     kommen und er den Mann hinter sich keuchen hört. Ob vor Anstrengung oder vor
     Genuss, wie er manchmal denkt – er kann es nicht unterscheiden. Rücken, Beine,
     Arme. Rohes Fleisch. Jemand schreit mit seiner Stimme. Dumpf. Unterdrückt. Er
     ringt nach Luft, windet sich, sucht einen Ausweg aus alldem, will weg, nur weg
     von diesem Schmerz, der ihn umhüllt, ihn schluckt und verschlingt. Er spürt,
     wie sein Körper zuckt, als die Schläge ausbleiben. Stille. Er hört sie weinen.
     Schritte scharren. Zögern. Befehle. Neue Dornen brennen ihn. Ungezählt. Jagen
     sein Herz, bis es stolpert. Ihr Schluchzen wird zu einem Wimmern. Sein Blick
     sucht das Fenster. Der Hof. Dahinter, über dem flachen Dach des grauen Anbaus,
     der Wald. Dunkel und grün. Saftig und voller Leben. Kühle. Schatten.
     Geborgenheit. Hier hat er sie geküsst. Hier hat sie ihn geküsst. Hier haben sie
     einander die Welt versprochen, wie sie für sie nie sein würde. Er schließt die
     Augen. Spürt nichts mehr. Die kühlen Schatten des Waldes nehmen ihn auf. Tragen
     ihn weich.

EINS
    Die schwere
Maschine unter ihr schwankte, glitt wie ein Lebewesen vorwärts. Bianca spürte
die Vibrationen des Dieselmotors, die kleinen Zuckungen des Schwenkarms und
hörte das Knirschen der Ketten. Feinarbeit. Die Hydraulik zischte, als sie den
Steuerknüppel umlegte, den Arm ausfuhr und das Ende positionierte. Ihre
Fingerspitzen kribbelten, als ob ihre Nerven eine direkte Verbindung zu den
Metallzähnen am vorderen Ende der Baggerschaufel eingegangen wären. Sie
grinste. Das war es, was Udo, ihr Lehrer, gemeint hatte. »Wenn du es richtig
drauf hast, bist du der Bagger.« Sie hatte es drauf.
Entgegen aller Skepsis und unzähliger hochgezogener Augenbrauen, denen sie
begegnet war. Rehaugen, eine Lockenmähne und zierliche ein Meter fünfundfünfzig
stellten nicht die idealen Voraussetzungen dar, um sich auf einer Baustelle
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