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Eifler Zorn

Eifler Zorn

Titel: Eifler Zorn
Autoren: Elke Pistor
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lag in
einer Tiefe, an die sie nicht rühren wollte, weil sie wusste, einige Dinge
blieben besser begraben.
    Sie war nicht überrascht
gewesen, als es passiert war. Ein Aushilfsarbeiter hatte sich genommen, was sie
ihm verweigert hatte. Hinter dem Bürocontainer einer anderen Baustelle. Nach
Feierabend. Beinahe hatte sie damit gerechnet, so als ob es angemessener wäre,
wenn die Leute und ihr Vater recht behielten und die Ordnung der Dinge durch
den ihr zugefügten Schmerz wiederhergestellt würde. Eine Frau wie sie gehörte
nicht auf eine Baustelle, und ganz sicher nicht in das Führerhäuschen eines
Baggers. Sie gehörte bestraft, und er hatte diese Strafe vollzogen.
    Wie Wurzeln eines Baumes winkelten
sich die deckenlosen Wände durch den Boden, öffneten Türlöchern neue Räume und
fundamentierten eine nicht mehr vorhandene Last. Mauern, die vorher Räumen und
Fluren Kontur gegeben hatten, verloren sich nun in einem sinnlosen Labyrinth.
Das letzte Stück der Kellerdecke musste noch abgetragen werden, dann war sie
für heute fertig. Wenn es ihr gelang, alles auf die Schaufel zu laden und so
wenig wie möglich in die Tiefe hinabbröckeln zu lassen. Vorsichtig bewegte
Bianca den Steuerknüppel. Kleine Steinbrocken lösten sich und fielen in die
Grube vor ihr, die Schaufelzähne suchten Halt, drangen vorwärts und brachen den
Widerstand.
    »Mist«, murmelte sie, als
mit einem Teil der verbliebenen Decke gleichzeitig ein Drittel der Wand
einstürzte, die einen der letzten Räume hinter sich verbarg. Ein Schwall
dunklen Wassers ergoss sich, den stürzenden Steinen folgend, in die Baugrube,
wirbelte Schutt und Holzstücke durcheinander und versickerte mehr und mehr, je
weiter es sich in die umliegenden Räume ausbreitete. Das hätte ihr nicht
passieren dürfen. Sie musste sich besser konzentrieren. Sie spielte mit den
Fingern auf den Steuerknüppeln. Erneut hob sie die Schaufel über die
Deckenreste, senkte sie sanft und suchte neuen Halt. Sie blinzelte. In den
Schatten des alten Kellerraumes war etwas. Ein Fass, eine Kiste, zu groß, um
mit den anderen Sachen hinausgespült zu werden. Nicht genau zu erkennen.
    Während er sie festgehalten
und in sie gestoßen, sie verwundet und benutzt hatte, hatte sie die ganze Zeit
auf das Erste-Hilfe-Plakat über ihr an der Wand des Containers gestarrt. Der
grüne Rand um die Zeichnungen, die braunen und gelben Haare der gezeichneten
Menschen, wie Helme, starr und steif. Er mühte sich in ihr ab, keuchte,
spreizte sie. »Ruhe bewahren«, las sie, der oberste Grundsatz. Immer wieder und
wieder und wieder. Atmete. Las. Zählte die Zeichnungen. Es waren sieben. Seine
Finger rissen an ihrem Mund. Zwängten sich zwischen ihre Lippen, drangen in
ihre Mundhöhle. Sie würgte. Jegliches Gefühl verließ den Teil ihres Leibes,
dessen er sich bemächtigt hatte, wurde taub und löste sich von ihrem Selbst.
Sie spürte nur die Finger, die von ihrem eigenen Speichel feuchten Hände in
ihrem Gesicht. Rang nach Luft. Ekel. Am Ende des Plakates hatte der
Braunhaarige dem Gelbhaarigen vermutlich das Leben gerettet.
Mund-zu-Mund-Beatmung, Herzmassage, stabile Seitenlage. Als er von ihr abließ,
sich wegrollte und die Hose über seine staubigen Knie hochzerrte, rollte sie
sich zusammen, die Beine am Körper, unfähig, ihren Blick von dem Plakat zu
lösen. »Erste Hilfe muss immer wieder trainiert werden«, stand ganz oben,
zwischen dem weißen Kreuz und dem Quadrat. Ein falsches Lachen suchte sich den
Weg durch ihre Brust. Sie würde es nie wieder vergessen.
    Ihr Chef hatte sie gefunden,
auf dem letzten seiner täglichen Kontrollgänge über die Baustelle, sie
aufgerichtet und schweigend ins Krankenhaus gefahren. Auch als es vorbei war,
die Spuren des Vergewaltigers gesichert, ihre Erinnerungen protokolliert, und
sie sich von allem reingewaschen hatte, hatte er nichts gesagt, zu fassungslos
über das, was man ihr angetan hatte. Danach hatte er sie eine Zeit lang nur bei
den kleineren Projekten eingesetzt, denen mit minimaler Besetzung, wo jeder
jeden kannte und wo die »personelle Unwägbarkeit«, wie er es nannte, von
vorneherein ausgeschlossen war.
    Mit einer gleitenden
Bewegung aus dem Handgelenk zog sie die Schaufel nach oben. Die große
Deckenplatte folgte, stellte sich senkrecht und kippte nach hinten über. Im
Fallen zerbrach sie in viele kleinere Stücke. Der Rest der Mauer zerbröselte
förmlich unter den nächsten Stößen und gab den Blick auf die Kiste endgültig
frei. Dunkles Holz, vom
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