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Eifler Zorn

Eifler Zorn

Titel: Eifler Zorn
Autoren: Elke Pistor
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Wasser verquollen.
    Sie hatte mit niemandem
darüber reden wollen, es nur mit sich allein ausgemacht, wie sie fast alles mit
sich ausmachte. Ihr Arzt und seine Bücher behaupteten, dass es sie einholen
würde. Sie schlaflos machen, die Bilder wieder vor ihren Augen abspulen, ihr
Herz rasen und sie selbst nicht mehr ohne Panik an einem Baucontainer
vorbeigehen lassen würde. Dabei war das einzige Gefühl in ihr nicht die Furcht
davor, dass es erneut geschehen könnte, sondern die Wut darüber, dass es
geschehen war. Dass sie es hatte geschehen lassen. Dass sie die Kontrolle
verloren hatte.
    Sie biss die Zähne zusammen,
blinzelte und konzentrierte sich. Sie würde die Kiste im Ganzen herausheben und
auf den Boden der Abrissgrube stellen. Behutsam senkte sie die Schaufel von
hinten an das Holz, winkelte sie an und schob sie sachte bis zu den Mauerresten
vor. Ihre Zunge drückte sich zwischen ihre Zähne, Zeichen höchster
Konzentration. Die Hydraulik zischte, und die Bewegungen setzten sich bis zu
ihrem Führerstand fort, als sie die Kiste langsam anhob, den Baggerarm
streckte, die Maschine nach links schwenkte und ihre Last ablud. Sie seufzte.
Mit einer kurzen Drehung der Zündung verstummte der Motor. Die Stille auf der
Baustelle war beinahe mit den Händen zu greifen. Außer ihr war niemand mehr
hier. Die Mitarbeiter der umliegenden Firmen hatten die Jalousien
heruntergelassen und die Rolltore verriegelt, bevor sie nach Hause gefahren
waren. Hinter ihr reihten sich Autos auf der B266 zu einem leisen
Hintergrundsurren auf. Sie öffnete die Tür des Führerhäuschens, stieg die
beiden Stufen hinunter und ging auf die Kiste zu. Hier lockte eines dieser
Geheimnisse, die sie so liebte. Das Holz glänzte wie lackiert. Schwarzbraunes
Wasser lief immer noch aus den Ritzen und versickerte im Boden. Bianca fasste
die Kiste an zwei Ecken und hob sie an. Sie war schwer, machte einen äußerst
stabilen Eindruck. Die dunklen Flecken am Rand des Deckels schienen tief ins
Holz der Seitenwände getriebene Nagelköpfe zu sein. Ein Versuch, den Deckel mit
bloßen Händen zu öffnen, schien ihr von vorneherein zum Scheitern verurteilt.
Sie sah sich um, entdeckte aber nichts als penible Ordnung. Natürlich hatten
die Kollegen alle Werkzeuge, die ihr das Leben jetzt erleichtern könnten,
weggeräumt und eingeschlossen. Den Schlüssel für den Werkzeugschrank hütete der
Chef. Sie ging zum Schuttcontainer und zog eine Eisenstange heraus.
    Das Holz gab ächzend nach,
Stück für Stück, als ob es sein Geheimnis hüten und nur widerwillig freigeben
wollte. Sie arbeitete sich langsam vor, schob das Eisenstück wie eine
Brechstange unter der Kante entlang. Hier hatte jemand sorgfältig sein Handwerk
ausgeübt, die Nägel im immer gleichen Abstand ins Holz getrieben. Mit dem
Brechen des letzten Metalls verrutschte der Deckel und gab den Inhalt der Kiste
frei. Bianca richtete sich auf, wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von
der Stirn. Ihr Körper reagierte schneller als ihr Verstand. Sie hörte sich
schreien, während sich das Erste-Hilfe-Plakat vor ihr inneres Auge schob. »Ruhe
bewahren«, flüsterte sie und spürte, wie das Zittern wieder in ihr aufstieg.
Wie die Angst in ihr hochkroch und ihr die Luft nahm. »Ruhe bewahren«,
flüsterte sie und lauschte ihrem Atem und den eigenen Worten nach, »Ruhe
bewahren!«
    ***
    »Dat jeht evver nittesu
ejnfach, wie der sich dat denk, Frau Wachtmeister. Ich möht ja och enns
schloofe künne meddachs.« Die alte Dame ballte die Hände zu Fäusten, machte
sich so gerade, wie ihr gebeugter Rücken es zuließ, und blitzte mich energisch
an. Ich lehnte mich an die Wand des Hausflurs und tauschte über ihren Kopf
hinweg einen Blick mit Sandra Kobler, meiner Kollegin, mit der ich heute Streife
fuhr. »Un wiesu hatt ihr su lang jebruch, bis ihr herjekomme sett? Mer han jo
fass att Ovend.«
    »Frau Jansen, vielleicht
beruhigen Sie sich erst einmal«, versuchte Sandra ihr Glück. »Ich bin mir
sicher, dass Herr Hilgers Sie nicht von Ihrem Mittagsschlaf abhalten will, wenn
er …«
    »Der soll de Mussik nett esu
laut drähe. Un och immer dann, wenn ich meng Musikantfess loofe han. Un dann
sunne Krach. Dat es doch keen Mussik. Hüürt doch enns.« Gertrud Jansen wies mit
der Hand zur zweiten Haustüre auf der Etage. Ich lauschte. Ein Hauch von
Rockmusik. Sicher nicht der Geschmack einer Zweiundachtzigjährigen.
    »Frau Jansen«, sagte ich
ruhig und schaute auf meine Uhr, »es ist gerade mal halb vier.
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