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Die Verraeterin

Die Verraeterin

Titel: Die Verraeterin
Autoren: J. T. Geissinger
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Prolog
    Früher einmal waren wir Götter.
    Vor vielen Jahrhunderten, als es auf der Erde noch idyllisch war und bevor der Mensch und seine furchtbaren, alles verzehrenden Zivilisationen Fuß fassten, herrschten wir über die anderen Wesen im tiefen, jungfräulichen Herzen Äquatorialafrikas. Göttlich und strahlend, die Fülle und Herrlichkeit unserer vielen Gaben in vollen Zügen genießend, nannten wir uns Ikati, weil es unsere kraftvolle Vollkommenheit, unsere katzenhafte, geschmeidige Anmut sowie unsere kluge und tödliche Macht am besten beschrieb.
    Wir lebten, liebten und zogen unsere Kinder groß, neben dem klaren, schimmernden Wasser des Kongo, unter der nährenden Sonne, dem endlos blauen Himmel und dem üppigen, kühlen Schatten der Baobab-Bäume. Wir trugen Kronen aus Gold, Granat und Tansanit, wir liefen nackt durch die unzerstörte Natur und kannten kein Schamgefühl. Wir verehrten unsere Toten, wir jagten unser Essen und schliefen in den dicken, gebogenen Ästen der Akazien und der Elefantenbäume. Von einer Generation zur nächsten reichten wir die Geschichten unserer glorreichen Vergangenheit weiter. Wir feierten unsere Mutter Erde und ihre große Macht. Und alles war vollkommen.
    Doch die Zeit ist ein gnadenloser Räuber, selbst für Wesen, die so gesegnet sind wie wir. Langsam begannen sich die Dinge zu ändern.
    Eindringlinge kamen. Ungeschickte, hässliche, zweibeinige Monster kamen mit Speeren, um unsere Herzen zu durchbohren. Sie kamen mit Pfeilen, um in unsere Körper einzudringen. Sie brachten Feuer, um unsere Behausungen niederzubrennen. Sie schlichen sich durch unsere Wälder und wilderten in unseren Jagdgebieten. Sie vergifteten unsere Flüsse und fingen unsere Kinder, unsere Alten, unsere Schwachen. Wir kämpften gegen unsere Feinde. Es blieb uns nichts anderes übrig. Jahr um Jahr kämpften wir, es waren Jahrzehnte des Krieges, des Blutes, des Todes. Manche Schlacht wurde gewonnen, doch schon in der nächsten Generation brach eine neue aus. Es gab so viele von unseren Feinden und so wenige von uns. Mit der Zeit wurde unsere Zahl immer geringer, und unsere Feinde gewannen die Oberhand.
    Wir mussten das tun, was alle anderen Wesen auch tun müssen: Wir passten uns an, um zu überleben.
    Wir lernten, wie sich die Menschen verhielten. Wir benutzten ihre Sprache. Wir trugen ihre Kleidung, säten ihre Samen an, bauten ihre Häuser aus Lehm und Gras, später aus Holz und Ziegel – so wie sie. Wir lernten, unser wahres Wesen zu verstecken. Nur so gelang es uns, allmählich wieder stärker zu werden.
    Im Verborgenen. Lautlos und heimlich. Mit einem brennenden Hass in unserem Herzen.
    Eines Tages tauchte eine andere Art von Mensch auf – ein Mann ohne Speer oder Schwert, ein Mann mit offenen Armen und einer sanften Stimme, der behauptete, unser Freund zu sein. Er bot uns einen Waffenstillstand an und wollte, dass wir zu den Flüssen, den Bergen und den grünen, unberührten Wäldern zurückkehrten, die immer schon uns gehört hatten. Vertraut mir, sagte der Mann. Wir waren den Krieg und das Blutvergießen so leid, dass wir es taten.
    Für lange Zeit war diese Vereinbarung gut, und unsere Spezies florierte von Neuem. Unsere Kinder und die der Menschen wuchsen gemeinsam auf. Unsere Sippen lebten miteinander. Da wir schön und begabt und im Gegensatz zu den Menschen nicht allein auf eine Körpergestalt beschränkt waren, sondern wandelbar und anpassungsfähig sein konnten, begannen uns die zweibeinigen Eindringlinge als die Götter zu verehren, die wir waren. Man brachte uns Opfer dar, man errichtete Statuen aus Gold, aus Ebenholz und Stein, man erbaute Tempel – am berühmtesten sind noch immer jene Tempel mit den Sphinxen. Man verehrte uns auf viele Weisen. Wir vereinten uns sogar mit unseren früheren Feinden und brachten Halbblütler zur Welt – Nachfahren, die eines Tages vielleicht ebenso begabt und gesegnet sein würden wie die Reinblütler. Oder vielleicht auch nicht.
    Eine Königin entstand aus einer solchen Vereinigung. Sie hieß Kleopatra, was übersetzt »Ruhm ihres Vaters« bedeutet. Ihr Vater war ein Ikati, einer der Unseren. Schöner, klüger und sinnlicher als wir alle zusammen herrschte sie über Imperien, verführte, brach Herzen und brachte einen Mann dazu, sich gegen seinen eigenen König zu stellen. Damit besiegelte sie unser Schicksal.
    Der Plan schlug fehl. Die Königin und ihr Geliebter starben. Wieder wurden die Ikati gejagt. Wieder wurden wir gehasst. Wir wurden aus
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